Milas und unser doppeltes Leben

von Christoph Reichenau 6. September 2021

Es geht um Identität, um das Eigene, um Fremdheit, um den Wunsch, andere festlegen, verorten, «erkennen» zu können. Es geht um das Zuhause im fliessenden und im gebrochenen Leben. Es geht um Möglichkeiten, die Doppelgängerinnen und Doppelgänger einem aufzeigen: Wer hätte ich auch werden können, wer könnte ich noch werden? Das Schlachthaus Theater stellt sich im neuen Stück diesen Fragen.

DAS DOPPELTE LEBEN / A KETTÖZOTT ELET / JETË E DYFISHTË / DVOSTRUKI ZIVOT. So heisst das Stück, das ab dem 9. September im Schlachthaus Theater Bern gegeben wird. Mein Compi bietet nicht sämtliche Zeichen auf den Buchstaben an; ich müsste das Handbuch konsultieren, um alle Wörter korrekt schreiben zu können.

Fragen

Ein wichtiges Element der Aufführung springt uns mit diesem Titel an: Er ist ernst gemeint, viersprachig. Auf der Bühne werden alle Sprachen gleichwertig gesprochen werden, ohne Übertitel. Wer eine oder mehrere nicht versteht, muss sich anderweitig behelfen: mit dem Lesen der Gesichter, der Körperhaltungen, der Reaktionen der Angesprochenen, der Stimmung auf der Bühne. Doch was heisst «behelfen»? Sprache allein, das Verstehen der Wörter und Sätze, ist ja auch dann längst nicht alles, wenn wir ihrer kundig zu sein glauben. Auch wenn wir keinen Dictionnaire benötigen, müssen wir auf den Klang achten, die Tonalität, auf die Anordnung der Menschen im Raum, auf das Ungesagte, das Unausgesprochene.

Doch selbst dann können wir nicht sicher sein, alles wirklich und wirklich alles zu kapieren, denn Wörter haben in verschiedenen Sprachen unterschiedliche Bedeutungen, zumindest in Nuancen, es kommt darauf an, wer sie wie verwendet oder weglässt. Neben dem Vocabulaire, der Grammatik, Syntax und Rhetorik ist Sprache, jede Sprache, mitbestimmt auch von der Mimik, von Gesten, Betonungen, von Lautstärke, von Pausen beim Reden und vom Schweigen. Es braucht neben dem Gehör den Verstand, die Gefühle und die Empathie zum Verstehen. Es braucht die Kenntnis des gesellschaftlichen Codes. Auf alles kommt es an, alles müssen wir aktivieren im Theaterstuhl. Zuschauen, Zuhören wird Arbeit sein. Lohnende Arbeit.

Projekt

Worum geht es? Im Rahmen eines vierjährigen Projekts des Schlachthaus Theaters mit dem Zürcher Theater Winkelwiese, dem Quendra Multimedia Theater Prishtina (Kosovo) und dem Theater Kosztolani Dezsö Subotica (Serbien) erforschten Theaterleute aus der Schweiz, Serbien und dem Kosovo Aspekte kultureller Zugehörigkeit. «Where is home» fragten sie; aber auch: Gibt es für einen Menschen ein Zuhause oder mehrere, woran macht man das fest, was gehört zu einem «Home», ist die Kindheit untrennbar damit verbunden? Gibt es die eine Chance oder den einen Zwang, aufzuwachsen irgendwo irgendwie, wo man dann «zu Hause» bleibt, auch wenn das Leben einen wegtreibt – oder gibt es eine zweite und vielleicht noch weitere, später?

Aus Gesprächen ergaben sich Fragen: Wer bin ich wirklich, wer bist Du wirklich? Woher kommt das Bedürfnis, jemanden festlegen zu wollen und zu können. Warum ist die Antwort auf «Woher kommst Du?» so wichtig? Bleibende, letztlich nicht beantwortbare Fragen.

Das Ensemble und Mila

Maike Lex, seit elf Jahren Co- und Alleinleiterin des Schlachthaus Theaters, und Daniela Janjic, Winterthur, in Mostar geboren, in Bosnien, Herzegowina und der Schweiz aufgewachsen, Dramatikerin mit Inszenierungen in München, Wien, Berlin, erarbeiteten Konzept, Text, Regie für das Stück mit zwei Schauspielerinnen (Albana Agaj und Patricija Katica Bronic) und zwei Schauspielern (Bubos David und Boris Kucov). Die in Thun geborene Milena Krstic verantwortet die Komposition und den Livesound; sie ist Musikerin und befasst sich künstlerisch u.a. mit den Texturen der Sprachen, die sie spricht; 2018 erhielt sie den Musik-Nachwuchspreis des Kantons Bern «Coup de coeur».

Ein Ensemble jung an Jahren, reich an Erfahrungen, mitten in manchen Doppelleben, in vielen Leben. Wer wäre geeigneter, der Grenzüberschreitung, der Fremdheit, der Suche nach Identität und ihrer Festlegung nachzuspüren als diese Menschen. Zur Geschichte, die sie uns miterleben lassen werden, die Hauptfigur heisst Mila, sage ich nichts. Doch etwas noch zum deutschsprachigen Teil des Titels: Das doppelte Leben.

Doppelgänger, Doppelleben

Das doppelte Leben kann ein Doppelleben sein, zwei Leben, die jemand nebeneinander führt, oft geprägt von Lüge, Heimlichkeit, Verrat. Es kann ein zweites Leben sein nach einem ersten, eine Chance oder ein Absturz, ein Neubeginn. Möglich ist, auf eine Person zu treffen, die einem gleicht, die man selber sein könnte, wenn man auf seinem Lebensweg einmal anders abgezweigt wäre. Was wäre dann geworden? Wer wäre man jetzt? Die Doppelgängerin, der Doppelgänger als Spiegelbild der eigenen Möglichkeiten, der vielleicht verpassten, vielleicht noch verheissenen. Wer könnte ich auch sein?

Die Leserin, der Leser merkt: Reden mit Maike Lex und Daniela Janjic über ihr Stück bewegt, regt an, weckt Erwartungen und Vorfreude. Mehr kann ich nicht weitergeben. Lassen wir uns ein, setzen wir uns aus. Unser Leben als sogenannt Einheimische und sogenannt Migrantinnen und Migranten wird uns wohl fremder im Theater. Und im fremderen Zustand rücken wir möglicherweise, hoffentlich näher zusammen. Vielleicht ein bisschen.

Première am 9. September, weitere Vorstellungen bis 19. September

www.schlachthaus.ch

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