«Mich interessiert alles, was mich umgibt»

von Tabea Andres 17. September 2023

Kunst Sereina Steinemann gewinnt den 20. Berner Frauenkunstpreis. Eine Begegnung mit der Preisträgerin in ihrem Atelier in der Länggasse.

«Ob alles mit rechten Dingen zuging, weiss man nicht» oder «Jetzt kommen wir zu den Fakten»: Sereina Steinemann besitzt Ordner voller Sätze und Wörter. Die Textfragmente findet die Künstlerin auf der GMX-Startseite, in Werbeanzeigen oder im Duden. Aus den Textsammlungen entstehen bei Steinemann prägnante Titel, Flyer, Zines, Comics oder Bücher. Und manchmal werden sie zu unmittelbaren Inhalten ihrer Bilder.

Die in Luzern aufgewachsene und in Bern lebende Künstlerin bewegt sich in verschiedenen Bereichen – ihr Hauptfokus ist aber die Malerei. Auf einer Leinwand in ihrem lichtdurchfluteten Atelier in der Länggasse hat Steinemann mit Acrylfarbe einen Chatverlauf festgehalten, der ihr Gespür für die Absurdität des Alltags zum Ausdruck bringt: «machi alles. / bini auf heimweg. / nun zug. / dann einkaufen. / dann heim. / hab kein Geld mit. / komme jetzt heim.»

Zu den kurzen Sätzen gesellt sich die Uhrzeit der Nachricht. Das Werk titelte sie «Hab kein Geld mit. Komme jetzt heim». Die Pinselstriche, der Aufbau, die Formen und eine reduzierte Farbgebung referenzieren den Handybildschirm nur noch im Ansatz. Andere Bilder zeigen scheinbar banale Sujets wie einen naiv gemalten Coop-Plastiksack.

Bild von Sereina Steinemann. (Bild: zvg)

Berlin, Detroit, Bern

Steinemanns Malereien setzen dort an, wo ein Gegenstand noch erkennbar ist, die einzelnen Flächen sich aber auch verselbstständigen. «Mich interessiert alles, was mich umgibt. Alltag, Alltagsgegenstände oder die Landschaften, die ich erblicke», sagt Steinemann. Ihre Arbeit, oft von einem subtilen Humor durchdrungen, will sich aber nicht lustig machen: «Ironie ist nicht meine Haltung in der Kunst». Das wäre zu einfach, sagt sie.

Bild von Sereina Steinemann. (Bild: zvg)

Steinemann hat den Fine-Arts-Studiengang an der Hochschule der Künste Bern absolviert und an der Universität Zürich «Geschichte der Fotografie» studiert. Ihr Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, Stipendien und Aufenthalte, etwa in Berlin oder Detroit, konnte sie wahrnehmen. Für den Frauenkunstpreis hat sie sich heuer das erste Mal beworben. «Seit einem Jahr habe ich ein Kind», erzählt sie. Obwohl ihr klar sei, dass Frauen im Kunstbetrieb immer noch strukturell benachteiligt würden und weniger sichtbar seien, habe sie davor nie das Gefühl gehabt, einen Nachteil zu spüren. «Der Gedanke, mich zu bewerben, kam, nachdem mein Erspartes für unbezahlten Mutterschaftsurlaub aufgebraucht war.»

Offenes Kurationsprojekt

Die private Berner Stiftung Frauenkunstpreis wurde von dem 2018 verstorbenen Naturwissenschaftler Matthias Jungck mittels einer Erbschaft gegründet. In den letzten Jahren wurde der Begriff «Frauenkunst» aber zunehmend in Frage gestellt. Deshalb hat die Stiftung den auf 15 000 Franken dotierten Preis unbenannt und gibt den neuen Namen im Rahmen der diesjährigen Preisverleihung im Oktober bekannt.

Während in den vorherigen Jahren ausschliesslich die Hauptgewinnerin ihre Arbeiten ausstellte, wurden im Jubiläumsjahr neben Steinemann bisherige Gewinnerinnen aus den letzten zehn Jahren eingeladen, zusammen mit einer Künstlerin ihrer Wahl im Kunsthaus Interlaken auszustellen. «10 + 10 + 01» sei ein offenes Kurationsprojekt, das spannende Zusammenhänge schaffe, so beschreibt Steinemann ihren Eindruck vom Ausstellungsaufbau.

Zudem haben sechs Journalistinnen die Ateliers der Preisträgerinnen besucht und mit ihnen und ihren jeweiligen Tandempartnerinnen Gespräche über Kunstbetrieb, Lebensformen oder Kunstförderung geführt. Abgelichtet wurden die Frauen von der Fotografin Yoshiko Kusano. Diese kraftvollen Porträts vereint die Stiftung Frauenkunst in einer aufwendig gestalteten Jubiläumspublikation und zeichnet damit ein vielschichtiges Stimmungsbild zeitgenössischer Kunst.

Bild von Sereina Steinemann. (Bild: zvg)