Das Buch von Yoshiko Kusano heisst schlicht «Kirchenfeld». Mit diesem Begriff verbinden viele Berner*innen klare Bilder: behäbige Häuserzeilen, mit Gärten umsäumte Villen und Botschaften. Schon beim ersten Durchblättern realisiere ich, dass Yoshiko Kusano diese Vorstellungen lustvoll und mit überraschenden Fotos unterläuft.
Unbeschwerte Jugend
Jugendliche plantschen in der Ka-We-De oder springen mit einem kühnen Salto in die Aare, flanieren auf dem Tennisplatz oder streifen als Halloween-Geister durch den Seilpark. Erwachsene stellen sich an ihrem Arbeitsplatz im Kirchenfeld der Fotografin. Viele davon arbeiten in Museen. Im Dählhölzli ist eine Kiste mit Insekten angeschrieben mit «Affen». In den Kisten mit blitzblanken Münzen in der eidgenössischen Münzstätte liegen Zettel mit der nüchternen Bezeichnung «Ausschuss».
Es ist eine unbeschwerte, witzige Form der Fotografie, welche dem ganzen Buch eine wunderbare Leichtigkeit gibt. Mit Vergnügen habe ich es mehrmals durchgeblättert und bin immer wieder auf neue Entdeckungen gestossen. Es ist ein Fotobuch, in dem die Menschen im Zentrum stehen, und nicht die Häuser, nicht die stereotypen Bilder. Mehr zum Kirchenfeld ist zudem in den klugen Texten von Christoph Reichenau, Guy Krneta und Alexandra Ecclesia zu lesen.
Bleiben, fahren, gehen
Die Fotos mit dem Anspruch «Kirchenfeld» fordern aber auch meinen eigenen Blick auf «mein» Kirchenfeld heraus, in dem ich auch schon eine ganze Weile lebe. Da realisiere ich, dass etwa der Verkehr fehlt, dieser unendliche Blechstrom auf der Achse Kirchenfeldstrasse-Thunplatz-Thunstrasse. Auf keinem Foto ein fahrendes Auto. Auch die Menschen fehlen, die vom Verkehr geprägt sind, als Autofahrende, Tramführer*innen, oder Fussgänger*innen, die mutig den Blechfluss queren. Die Menschen im Fotobuch von Yoshiko Kusano sind immer schon da.
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Dann vermisse ich die Menschen, die fast täglich im Kirchenfeld demonstrieren, häufig auf dem Helvetiaplatz, aber auch bei den Botschaften. Sie sind auch – da? Zuhause? Während Wochen haben Menschen aus dem Iran unbeirrt, laut und farbig in Sichtweite der iranischen Botschaft für Menschenrechte in ihrem Land demonstriert.
Fliessende Grenzen
So unterschiedliche Blicke auf die Menschen des Kirchenfeld möglich sind, so fliessend sind selbst seine Grenzen. Im historischen Teil des Buches, von Alexandra Ecclesia verfasst, ist der Überbauungsplan von 1881 abgebildet. Hier erstreckt sich das Kirchenfeld bis zum Burgernziel und ist gegen Muri vom Kalcheggweg begrenzt. Auch die Tennisplätze beim Thunplatz, die Thunstrasse mit Tramdepot und Burgernziel gehörten dazu. Heute endet das Kirchenfeld beim Dählhölzli und am Thunplatz. Danach beginnt das Quartier Brunnadern. Ist das wichtig? Nein, überhaupt nicht. Es zeigt nur: Menschen definieren mit ihrem Blick, oder Fotografinnen mit ihren Fotos, nicht nur die Sichtweise auf das Kirchenfeld unterschiedlich, sondern selbst seine Grenzen.
Wer einen einzigartigen, unerwarteten und fröhlichen Blick auf das Kirchenfeld erhaschen möchte, dem oder der sei das Fotobuch von Yoshiko Kusano wärmstens empfohlen.