Massenprozess wegen beruflicher Tätigkeit

von Manuela Hugentobler 30. November 2016

Zwei Berner Juristinnen sind Mitte November nach Istanbul gereist, um als Prozessbeobachterinnen einen Tag lang am sogenannten «KCK-Anwält_innensprozess» teilzunehmen. – Hier ist ihr Bericht.

Oft werden wir gefragt, warum wir uns für verfolgte Anwält_innen in der Türkei engagieren. Untrennbar mit dieser Frage verbunden ist ein skeptischer, an der Sinnhaftigkeit von Prozessbeobachtungen zweifelnder Unterton. Irgendwie verständlich; schliesslich werden in der Türkei elementare Verfahrensgarantien offen missachtet und Kritik verhallt meist ungehört – und direkt verändern können wir das nicht. Wir möchten versuchen, eine Antwort auf diese Frage zu finden, indem wir von unserer letzten Reise nach Istanbul erzählen und die Hintergründe des Prozesses erläutern.

Hintergrund des «KCK-Anwält_innenprozesses»

Spätestens mit den Folgen, die der gescheiterte Putsch vom 15./16. Juli 2016 nach sich zog, wurde das rücksichtlose Vorgehen der AKP-Regierung von Recep Tayyip Erdoğan deutlich. Neu ist diese Art der Politik allerdings nicht: Die exzessive Anwendung der Antiterrorgesetzgebung und die damit verbundene Kriminalisierung anwaltschaftlicher Tätigkeit sind bekannte Mittel zur Verfolgung der demokratischen Opposition.

Ausgangspunkt des von uns beobachteten Verfahrens bildet eine Verhaftungswelle, im Zuge derer bereits zwischen 2009 und 2012 mindestens 8’000 Personen in Untersuchungshaft genommen worden sind. Im November 2011 wurden schliesslich auch 46 Anwält_innen verhaftet. Der Vorwurf: Mitgliedschaft oder Unterstützung der Koma Civaken Kurdistan (KCK). Der 2005 auf Initiative des inhaftierten Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), Abdullah Öcalan, gegründeten Union der Gemeinschaften Kurdistans wird unterstellt, den städtischen Arm der PKK zu bilden. Sie wird in der Türkei deshalb als Terrororganisation eingestuft.

Die angeklagten Strafverteidiger_innen übernahmen vorwiegend politische Mandate – so waren sie etwa an der Verteidigung Öcalans beteiligt und haben Angeklagte aus anderen KCK-Verfahren vertreten. Mit ihrer Anklage wird nun die blosse Ausübung der beruflichen Tätigkeit zum illegitimen terroristischen Akt. Dieses Vorgehen verletzt den menschenrechtlich geschützten Anspruch auf eine effektive Strafverteidigung.

Politik im Gerichtssaal

Ein wichtiger Teil der Prozessbeobachtungstätigkeit besteht darin, über Rechtsverletzungen zu berichten und die Verfahrensentwicklungen politisch einzuordnen. Die politische Dimension des «KCK-Anwält_innensprozesses» zeigte sich am 14. November 2016, als der Prozess vor der Strafkammer in Istanbul fortgesetzt wurde, deutlich. Erstaunlich war insbesondere die veränderte Stimmung im Gerichtssaal. Zum ersten Mal entstand der Eindruck, der vorsitzende Richter – er ist seit dem Putsch neu für das Verfahren zuständig – höre den Ausführungen der Verteidigung tatsächlich zu.

Er unterbrach den Angeklagten Özgür Erol selbst dann nicht, als dieser die KCK-Strafverfahren als politische und damit illegitime Prozesse bezeichnete. Erol betonte, dass die Strafverfahren mit der kurdischen Frage zusammenhingen: Die KCK-Verfahren hätten in erster Linie der Torpedierung der Friedensverhandlungen in Oslo 2009 bzw. der Gespräche zwischen Teilen des türkischen Geheimdienstes MIT und der PKK 2010/2011 gedient. Um diese Zusammenhänge aufzuzeigen, beantragte Erol die Integration der Akten verschiedener »Nach-Putsch-Verfahren« gegen die Gülen-Gemeinschaft in den eigenen Prozess. Die KCK-Verfahren waren bis zum Bruch mit der AKP grösstenteils von Angehörigen der nun für den Putsch verantwortlich gemachten Gülen-Gemeinschaft geführt worden – Richter, Staatsanwälte und Polizeibeamte, die sich heute selber u.a. wegen Korruption und politischer Verschwörung vor Gericht verantworten müssen.

Nach kurzer Verhandlung und der Empfehlung des Staatsanwaltes, dem Antrag zu folgen, entschied der Richter, die Akten in das Verfahren aufzunehmen und setzte den nächsten Termin für den 9. März 2017 an – aus Sicht der Verteidigung ein vorläufiger Erfolg.

Delegation als Zeichen der Solidarität

Wir beobachten die Verfahren, können aber keinen direkten Einfluss auf ihren Verlauf nehmen. Unsere Anwesenheit kann entsprechend nicht gewährleisten, dass die Prozesse nach rechtstaatlichen Prinzipen geführt werden. Und doch reisen wir regelmässig in die Türkei, um unsere von Repression betroffenen Partnerorganisationen und Berufskolleg_innen zu unterstützen. Die Präsenz internationaler Delegationen wird als Zeichen der Solidarität sodann auch sehr geschätzt – umso erfreulicher war es festzustellen, dass die Delegation im November 2016 mit rund 40 Personen aus der Schweiz, Italien, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und England vor dem Hintergrund der jüngsten Verhaftungswellen im Vergleich zu den Prozesstagen vor dem Putsch wieder angewachsen ist. In welche Richtung sich der «KCK-Anwält_innenprozess» weiterentwickeln wird, bleibt jedoch nach wie vor unklar. Selbst wenn die hängigen KCK-Verfahren im Zuge der Zerschlagung der Gülen-Gemeinschaft eingestellt oder die Angeklagten freigesprochen werden sollten – was bislang ungewiss ist –, ändert dies kaum etwas an der aktuellen Verfolgung der demokratischen Opposition.

Druck auf Kritiker_innen nimmt weiter zu

Insbesondere beim Spaziergang durch die Istiklal [Unabhängigkeitsstrasse, Red.] hätten wir Anfang November 2016 versucht sein können zu vergessen, dass sich die Türkei rechtlich im Ausnahmezustand befindet, wenn da nicht die Banner und hausfassadengrossen Plakate gehangen hätten: «Die Herrschaft gehört dem Volk» oder «Das Volk herrscht – die Türkei lässt sich vom Terror und vom Putsch nicht verschlingen». Bereits auf der Busfahrt vom Flughafen ins Stadtzentrum waren uns zahlreiche, überdimensionierte Tafeln mit Abbildungen Erdoğans sowie die vor private Fenster gehängten türkischen Nationalfahnen als Ausdruck der zunehmenden Spaltung der Gesellschaft in »für« und »gegen« die Regierung aufgefallen. Das Prinzip ist simpel: in der Rhetorik Erdoğans werden Kritiker_innen zu Feind_innen seiner «neuen Türkei» und damit zu Terrorist_innen, die strafrechtlich zu belangen sind.

Noch vor der Abreise hatten wir erfahren, dass am 11. November 2016 370 Organisationen – darunter die Anwält_innenorganisationen ÖHD und ÇHD – vom türkischen Innenministerium verboten worden waren. Zwar handelt es sich bisher «nur» um ein vorläufiges Verbot von drei Monaten, doch ist damit zu rechnen, dass ein definitives Verbot mittels Notstandsdekret folgen wird.

Im Gespräch haben wir von türkische Kolleg_innen ausserdem erfahren, es sei davon auszugehen, dass allen Mitgliedern der beiden Organisationen die Zulassung als Anwält_innen entzogen würde und dass es zu weiteren Verhaftungen kommen werde. Gerüchten zufolge soll sich die Regierung bereits bei der Anwaltskammer erkundigt haben, wie dafür am besten vorzugehen sei. Und tatsächlich ist es in der Woche nach den Organisationsverboten verschiedentlich zu Verhaftungen gekommen.

Unbegreifliche Passivität der EU

Spätestens mit den Säuberungswellen, die auf den gescheiterten Putsch folgten, wurde offensichtlich, dass sich Erdoğan «seinen» Staatsapparat, «seine» Justiz, «sein» Militär und «seine» Medien seiner politischen Agenda entsprechend zurechtzimmert. An geostrategisch wichtiger Lage und als eines der Schlüsselländer zur Unterbindung der illegalisierten Migration und mit rund drei Millionen Geflüchteten im Land verfügt die türkische Regierung über wirksame Druckmittel: EU-Politiker_innen, die NATO und die europäischen Regierungen zeichnen sich angesichts schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen, begangener Kriegsverbrechen und dem stetigen Abbau rechtsstaatlicher Prinzipien durch eine unbegreifliche Passivität aus. Umso wichtiger erscheint in dieser Situation zivilgesellschaftliches Engagement. Für uns als kritische Jurist_innen bedeutet das, weiter zu versuchen, die Position unserer Anwaltskolleg_innen zu stärken.