«Man mobilisiert alles, was das Haus hergibt»

von Ursula Pinheiro-Weber 4. Oktober 2012

«Blaubart», die gemeinsame Produktion von Musiktheater, Schauspiel, Tanz und Berner Symphonieorchester steht symbolisch für den Neustart von Konzert Theater Bern, der die gleichberechtigte Zusammenarbeit definiert.

Zum Auftakt der Theatersaison zeigt das Stadttheater das Stück «Blaubart» von Max Frisch, ein Gesamtkunstwerk der singenden, sprechenden, spielenden und tanzenden Art.

Sucht man auf dem Internetauftritt von Konzert Theater Bern die Programmvorschau der verschiedenen Sparten, steht bei allen ein Stück im Zentrum: «Blaubart» wird mehrfach genannt, im Schauspiel, im Ballett und im Musikprogramm. Und dies ist eine der grossen Neuerungen der gestarteten Zusammenarbeit im ehrenwerten Haus. Der Dreispartenbetrieb probt die enge Verknüpfung, ein ehrgeiziges Motto, welches bis vor Kurzem noch skeptisch verfolgt wurde.

Werkeinführung als Appetizer

Wir liessen uns auf die Werkeinführung von «Blaubart» kurz vor der Premiere ein und freuten uns auf die Vorstellung. Die zahlreichen Gäste erhielten im Foyer viele Hintergrundinformation, mussten sich vor Eintritt in den Theatersaal aber warnen lassen: Man werde nur den ersten Teil der Aufführung sehen, und dieser daure eine halbe Stunde.

«Was heisst spartenüber-greifend? Man mobilisiert quasi alles, was das Haus hergibt.»

Michael Simon, Regisseur

Man solle sich nicht irritieren lassen, die Musik stehe im Vordergrund. Daneben werde man mit Videoprojektionen, starren Szenen und vor allem stummen Schauspielenden vorliebnehmen müssen. Das Ganze werde dann nach der Pause Sinn bringend aufgelöst, dies solle man sich aber dann an der Premiere oder später zu Gemüte führen. Ein Appetizer also. Nun, man war gespannt, der geneigte Theaterfan wohl auch etwas enttäuscht. Dies jedoch ohne Grund.

Videoproduktionen in Schwarz-Weiss-Manier

Das Symphonieorchester spielte beherzt und mit viel Verve auf, die Vielfältigkeit und die Eindringlichkeit verzückten. Gleichzeitig durfte sich das Publikum an Videoproduktionen in Schwarz-Weiss-Manier erlaben, welche erst auf den zweiten Blick verstörend wirkten und durch Rückwärtsspulen und Verfälschungen die Wirklichkeit verzerrten, schräg und unheilvoll erzählten die Bilder von einer doppelten, ja vielfachen Weltwahrnehmung. Und der Wahn liess sich hinter allen Bildern vermuten. Was genau die verführerische Schönheit sollte, die Fussballfiguren aus Karton aufstellte und den Mann mit allen Mitteln zu sich lockte? Was versinnbildlichten die erstarrten Figuren hinter dem transparenten Vorhang genau? Warum zerschnitt der Teenager sein Plüschtier? Weshalb zwang sich die Tänzerin nach ihren gestressten Verrenkungen und leidenden Zuckungen immer wieder zu einem Lächeln in Richtung Mann? All dies blieb für das Publikum vorerst unklar, aber man durfte sich einlassen auf die Stimmungen, die Fragen verschwanden mehr und mehr, man fühlte das Grauen, die Knechtschaft und die unterdrückende Kraft der Psyche. Man spürte die Botschaft: Diese gruselige Aussenwelt muss eine Art Spiegelung der Innenwelt des Hauptdarstellers sein. Dieser vielversprechende erste Teil vermochte die Zuschauer zu überzeugen und machte Lust auf mehr.

Frischs lückenreiches Werk spartenübergreifend füllen

Wie konsequent und eigenwillig diese erste Vorführung der neuen Spielsaison die spartenübergreifende Neuausrichtung des Stadttheaters zum Ausdruck bringen würde, zeigt dieser Aufführungsteil sehr schön. «Blaubart», das letzte grössere Prosawerk von Max Frisch, steht am Ursprung der Produktion.

«Wie kommen wir in die Wahn- und Traumwelt von Schaad? Mit Mitteln, die mehr ausdrücken können als Worte.»

Michael Simon, Regisseur

Es ist 1982 erschienen und vereint alles, was Frisch ausmacht. All die Unsicherheiten zur eigenen Biografie, zur Identität, zur Wahrheit im Zusammenhang mit der Frage «Wer bin ich?» dringen in voller Wucht durch. Das Stück hat Frisch mit vielen Fragezeichen hinterlassen. Geschrieben in Dialogen, lässt er offen, wer genau nun was sagt, einzig Bindestriche sind Zeichen für einen Dialogwechsel. In assoziations- und anspielungsreichen Szenen liefert Frisch viele Lücken, die es zu schliessen gilt. Dies kann auch eine Chance sein. Ja, was könnte besser sein, als aus einem Stück mit vielen Interpretationsmöglichkeiten und Figuren, die sich teils ausserhalb der physischen Realität bewegen, ein spartenübergreifendes, multimediales Spektakel zu kreieren?

«Worte genügen nicht»

Genau dies war der Grund, warum Regisseur Michael Simon sich für den «Blaubart» entschied: «Wir wollten die drei Sparten unbedingt zusammenbringen, es geht ja auch um ein Politikum in Bern», erzählt der mit der ersten spartenübergreifenden Produktion beauftragte Regisseur. «Der Beizug von Tanz, Musik und Chorgesang ins Schauspiel macht es leichter, in andere Ebenen zu gelangen und Gefühle im weitesten Sinne zu transportieren.» So wird Rosalinde, eine der sieben Frauen des angeklagten Felix Schaad, zum Sinnbild der Wahnvorstellungen des Protagonisten, da sie mal singend, mal tanzend in Erscheinung tritt und gar als Tote noch vorhanden ist. «Die Sprache reicht für eine auftretende Tote nicht aus, um sich zu artikulieren. Da ist der Tanz vielschichtiger und metaphysischer, die Musik steuert auf einer wieder anderen Ebene das ihre dazu bei.» Freuen wir uns nun, auch Teil zwei und drei zu sehen. Darin werden die Schauspielfans nun sicher voll auf ihre Kosten kommen, genauso wie Ballett- und Musikliebhaberinnen und -liebhaber.