David Füst: Du schreibst im Intro deines Buches, eine Gesellschaft brauche Menschen am Rand. Eine Gesellschaft wolle wissen, wo oben und unten ist.
Klaus Petrus: Ich bin kein Soziologe, aber ich habe den Eindruck, wir neigen dazu, Menschen und ihre Lebenswelten in Kategorien einzuteilen– in ein «Wir» und «die Anderen», in ein «oben» und «unten», in eine «Mitte» und einen «Rand». Diese Kategorien sind mehr oder weniger problematisch, aber alle haben mit Hierarchien und Macht zu tun. Auffällig ist jedenfalls, dass meistens diejenigen, die oben sind oder in der Mitte, definieren, was unten ist oder am Rand. Auch deshalb sehe ich Begriffe wie «Rand» oder «randständig» sehr kritisch. Durch sie werden soziale Positionen zementiert. Andererseits ist es eine Tatsache, dass es Menschen gibt, die abgehängt sind und nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen. Es wäre absurd, das zu leugnen.

Gegen diese Einteilung von Menschen in die Kategorie «randständig» beschreibst du ja auch ein Gegengift: Empathie und Phantasie. Wie gehst du mit diesen Begriffen um? Sind sie ein Leitmotiv für dich?
Mich treibt das Thema Stereotype um. Auf der einen Seite brauchen wir Stereotype, Schubladen, um mit der Komplexität der Wirklichkeit zurechtzukommen und sie zu vereinfachen. Auf der anderen Seite können solche Bilder in unserem Kopf sehr schnell in Vorurteile oder gar Feindbilder umschlagen. In der Folge betrachten wir den Menschen nicht mehr als Individuum, sondern bloss als Vertreter einer Gruppe. Auf diese Weise verlieren wir unsere Phantasie. Damit meine ich nicht unsere Fähigkeit, Märchen zu erfinden, sondern etwas sehr Simples, nämlich: dass wir uns die Frage stellen, ob es nicht auch anders sein könnte, als wir uns das in unseren Köpfen immer schon zurecht gemacht haben. Wenn wir einen Menschen auf seine Rolle als Stellvertreter einer sozialen Gruppe sehen, ist es schwer, Mitgefühl zu haben. Hier kommt für mich die Empathie ins Spiel. Empathie ist erst möglich, wenn wir den Menschen im Menschen wiedererkennen. Ich persönlich könnte solche Portraits nicht machen, wenn ich mich nicht mit den Menschen verbinden könnte.
Die von mir portraitierten Leute mögen am Rand leben, aber sie sind ja trotzdem hier, mitten unter uns, im öffentlichen Raum.
Deine Porträts und Reportagen fühlen sich sehr nah an, wie kommt das?
Ich denke, man kann Menschen nah sein, auch wenn man nicht alle ihre Erfahrungen teilt. Für mich ist wichtig, dass ich glaubhaft vermitteln kann, dass ich mich für den Menschen, seine Welt und seine Geschichte interessiere. Und mir ist wichtig, dass ich diese Menschen immer wieder treffe oder immer wieder an die Orte zurückkomme, wo sie sich aufhalten. So entsteht Vertrauen, zumindest ist das meine Erfahrung. Mit dem Vertrauen kommt die Nähe.
Wie gehst du vor, um eine Geschichte zu erzählen?
Das ist sehr unterschiedlich. Es kommt vor, dass mir Leute auffallen, wie etwa diese ältere Frau, die von Armut betroffen ist; ich bin ihr gefolgt, habe sie angesprochen und daraus sind lange Gespräche entstanden. Für die Reportage über Obdachlose und Süchtige in Bern war ich während drei Wochen fast jeden Tag auf der Gasse und habe mich immer wieder mit diesen Leuten getroffen. Manche Kontakte kriege ich von Organisationen, wie zum Beispiel für meine Fotoserie über Erntehelfer im Berner Seeland. Beim Portrait über einen Freier wiederum war es so, dass ich wochenlang in Freier-Foren unterwegs war und mich dann als Reporter geoutet habe.

Eine Frage zu den Orten. Du musstest in dem Fall spezifische Orte aufsuchen, um Menschen für die Geschichten zu finden. Was bräuchte es, damit die Menschen, die du porträtierst, sichtbarer werden? Damit mehr Begegnungen entstehen könnten?
Diese Frage habe ich mir schon oft gestellt. Während Corona zum Beispiel, als viele von uns aufgrund der Massnahmen zu Hause blieben, wurden andere plötzlich sichtbarer: jene die kein Zuhause haben oder sonst unter prekären Bedingungen leben und deshalb auf den Strassen unterwegs waren. Was ja nur zeigt, dass wir normalerweise an ihnen vorbeigehen, sie gar nicht beachten oder gar ausblenden. Um auf deine Frage zu antworten: Ich denke, es ist eine Sache der Einstellung und Perspektive. Die von mir portraitierten Leute mögen am Rand leben, aber sie sind ja trotzdem hier, mitten unter uns, im öffentlichen Raum. Sie sind da, aber wir sehen sie nicht – oder wollen sie nicht sehen –, und machen sie dadurch unsichtbar.
Zum Beispiel reduzieren wir diese Menschen oft auf die Rolle eines Opfers. Mit meinen Portraits möchte ich zeigen, dass sie viel mehr sind als das.
Du fängst dein Buch mit Herrn Koller an, einem Trinker, der mit seiner Frau in Bern wohnt und seinen Alkoholismus mehr oder weniger erfolgreich versteckt. Hast du diese Figur gewählt, weil sie bei den Leser*innen auf Resonanz stösst? Da die meisten Menschen einen Vater und Grossvater haben, können sich so mit der Figur identifizieren.
Ja, in dieser Geschichte kommt, wie du sagst, vieles zusammen. Auch die «Normalität des Randständigen», wenn man das denn so nennen will, kommt zum Ausdruck. Herr Koller achtet auf sich, hält Kontakt zur Familie und zu Freunden, er versucht eben ein «normales» Leben zu führen. Zugleich ist sein Leben für mich ein krasses Beispiel dafür, wie aufwändig es ist, am Rand leben zu müssen – alleine schon all die Ausreden, die er erfinden muss, um möglichst unauffällig zu bleiben.

Du hast die Geschichten der von dir porträtierten Menschen literarisch verdichtet und viele Emotionen eingebaut. Wie bist du an diese Emotionen gekommen?
Indem ich die Menschen ins Zentrum stelle. Zum Beispiel habe ich bewusst darauf verzichtet, ihr Umfeld mit einzubeziehen und weitere Personen zu interviewen – was man aus journalistischer Sicht freilich kritisieren kann. Mir geht es einzig um die Perspektive, die diese Menschen auf sich selbst und ihr Leben werfen. Diese Sicht ist – wie bei allen anderen auch – weder glatt noch rund, sondern weist Ecken, Kanten und Widersprüche auf, und oft haben diese Geschichten weder Anfang noch Ende. Das alles wollte ich genauso aufschreiben und nicht «korrigieren» oder bewerten.
Was war dein Ziel, deine Intention bei den Geschichten?
Mich interessiert das Komplexe an Geschichten über das Leben anderer. Im Fall von Menschen, die angeblich am Rand unserer Gesellschaft leben, haben wir, wie schon gesagt, sehr fixe Bilder im Kopf, und diese Bilder sind in den meisten Fällen grobe und, wie ich auch meine, ziemlich uninteressante Vereinfachungen. Zum Beispiel reduzieren wir diese Menschen oft auf die Rolle eines Opfers. Mit meinen Portraits möchte ich zeigen, dass sie viel mehr sind als das. Ein Trinker ist immer mehr als nur ein Trinker, eine Arme immer mehr als nur eine Arme. Liselotte Krähenbühl, eine ältere Frau, von Armut betroffen, habe ich zum Beispiel gebeten, eine Liste mit Dingen zu erstellen, die sie mag, und mit Dingen, die sie nicht mag. Auf diese Weise habe ich vieles aus ihrem Leben erfahren, das mit Armut nichts zu tun hat. Zum Beispiel notierte sie auf, dass sie Kartoffelsalat mag. Das fand ich umwerfend, ich wusste: Dies wird der letzte Satz in meinem Portrait über die «arme Lotti» sein.

In deinem Buch hast du fotografisch gearbeitet, viele Fotos sind schwarz-weiss. Warum hast du dieses Stilmittel gewählt?
Viele der Themen, die mich beschäftigen, befassen sich mit sozialen Problemen, die es nicht erst heute gibt, sondern leider schon seit langem. Armut, Ausgrenzung, Migration, Kriege: Es mögen sich die Bedingungen ändern – und ich will nicht bestreiten, dass es auch Fortschritte gibt –, aber in gewisser Hinsicht bleibt doch vieles beim Alten, was wir gerne vergessen oder gar verdrängen. Als ich letztes Jahr in Somalia war, habe ich Bilder gemacht, die man aus der grossen Hungerkrise in den 1990er-Jahren kennt. Auch in der Ukraine habe ich schwarz-weiss fotografiert; die visuellen Parallelen zu den Jugoslawienkriegen der 1990er sind unübersehbar. Oder die Armut in der reichen Schweiz: Sie hat nicht aufgehört in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, es gibt sie bis heute. Die Schwarz-Weiss-Fotografie ist für mich ein Mittel, um darauf hinzuweisen, dass es hier eine gewisse Kontinuität gibt und die Probleme noch lange nicht überwunden sind.
Wie konntest du eine Atmosphäre schaffen, dass du die Menschen so einfangen konntest, wie sie im Buch präsentiert sind?
Ich versuche immer transparent zu machen, dass ich Fotograf bin und Bilder ein ganz wichtiger Teil meiner Arbeit sind. Die Kamera aber nehme ich meist erst spät hervor, oft auch erst nach dem zweiten oder dritten Treffen. Dann wird nur noch fotografiert, fast gar nicht mehr geredet. Ich bin dann einfach da und mache Bilder. Wenn ich Glück habe, falle ich gar nicht mehr auf.
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Um nochmal auf die Orte zurückzukommen. Oft treffe ich dich an Orten wie dem Casa d’Italia, Casa Marcello oder heute hier im Sous-Sol. Wieso ziehen dich diese Orte an? Wie sehr hat das mit dir zu tun?
Ich finde solche Orte belebend. Ausserdem kann ich da gut arbeiten. Ich mag den Lärm, das Drumherum. Wenn es still ist, kann ich nicht arbeiten, das macht mich nervös. Und dann gibt es Orte, die etwas Inspirierendes haben, Migros Restaurants zum Beispiel. An den Nachmittagen kommen hier Menschen zusammen – meist ältere –, die sonst wohl alleine wären. Sie trinken Kaffee, machen ein Rätsel, reden über dies und das. Das berührt mich irgendwie sehr.
Um es abzurunden: Wieso teilen die Menschen ihre Geschichte mit dir? Wieso könnte es ein Bedürfnis sein, sie so zu erzählen, sich mitzuteilen?
Es gibt unter den Portraitierten gewiss einige, die finden, ihre Situation sei ungerecht, und deshalb sei es wichtig, dass man davon erfährt. Andere würden von sich aus wohl nie die Öffentlichkeit suchen, etwa weil sie – aus welchen Gründen auch immer – Scham empfinden. Dass sie ihre Geschichte dennoch erzählen, hat vielleicht auch damit zu tun, dass wir alle letztlich ein Interesse haben, uns mitzuteilen, auszutauschen – vorausgesetzt, das Gegenüber nimmt uns ernst.
