«Man kann dem Krieg nicht wirklich entfliehen»

von Janine Schneider 13. September 2024

Kino Zurzeit findet das Filmfestival Kino Kosova statt. Aus dem diesjährigen Gastland Bosnien und Herzegowina ist Elma Tataragić vom Sarajevo Filmfestival angereist. Ein Gespräch über die Ursprünge des Festivals während des Krieges und die Filme, die sie nach Bern mitgebracht hat.

Das Sarajevo Filmfestival fand zum ersten Mal 1995 statt, noch während der Belagerung der Stadt statt. Frau Tataragić, Sie waren damals als 18-Jährige auch an der Organisation beteiligt. Wie konnte ein solches Festival inmitten des Krieges zustande kommen? 

Das Festival war nicht die erste kulturelle Veranstaltung, die in Sarajevo während der Belagerung stattfand. Bereits sehr früh während des Krieges begannen Leute Konzerte und Ausstellungen zu organisieren. Es gab auch das Kriegskino, den einzigen Ort, an dem Filme während des Krieges gezeigt wurden. Was interessant an diesen schrecklichen, aber aussergewöhnlichen Situationen ist: Man erkennt die Fähigkeit der Menschen sich an diese anzupassen. Es wäre falsch zu sagen, dass man sich daran gewöhnt, dass Menschen hungrig sind oder sterben. Aber man versucht, sein Leben so normal wie möglich zu gestalten. Und zu dieser Normalität gehören eben auch Bücher und Filme. Kultur wurde lebensnotwendig für die Menschen in Sarajevo. Man macht, was man braucht, um zu überleben. Und was wir brauchten, um zu überleben, war ein Festival.

War es nicht schwierig, überhaupt Gäste und Publikum ans Festival zu kriegen?

Alles ist schwierig während des Krieges! Aber es ist auch alles möglich – denn jeder Tag könnte dein letzter sein. Ausserdem erhielten wir Unterstützung von Intellektuellen und Filmschaffenden ausserhalb Bosniens, die die Welt darauf aufmerksam machen wollten, was in Sarajevo passiert. Das Locarno Filmfestival hat uns zum Beispiel auch stark unterstützt. 1995 ging ein Teil unseres Teams nach Locarno während des Festivals – um Filme nach Sarajevo zu holen und weil es einfacher war, von Locarno aus mit der Welt zu kommunizieren. Ich war auch mit dabei und besuchte in Locarno tatsächlich das erste Filmfestival meines Lebens.

Man macht, was man braucht, um zu überleben. Und was wir brauchten, um zu überleben, war ein Festival.

Als Sie in Locarno waren – haben Sie sich nicht kurz überlegt, einfach in der sicheren Schweiz zu bleiben?

Es war eine sehr schlimme Zeit in Bosnien. Als ich Ende Juli nach Locarno reiste, war das nur ein paar Wochen nach dem Genozid in Srebrenica – für mich war das traumatisch. Nach drei Jahren Krieg denkt man, dass nun alles etwas ruhiger wird, und dann passiert so etwas Schreckliches – und zwar in einer kleinen Stadt nicht weit von Sarajevo entfernt. Plötzlich wird einem bewusst, dass das uns allen passieren könnte. Mir ging es sehr schlecht und ich war froh, Sarajevo verlassen und nach Locarno gehen zu können. Ich war bereit für alles. Ich habe auch überlegt, ob ich nicht versuchen könnte zu bleiben… Aber ich habe es nicht versucht. Eineinhalb Monate später war ich zurück in Sarajevo bei meinen Eltern und meinem Bruder und war froh darüber – es war mein Zuhause. Was ich viel später erkannt habe: Man kann dem Krieg nicht wirklich entfliehen. Auch wenn ich in Locarno geblieben wäre, hätte ich ihn mit mir mitgenommen. Ich kenne viele Leute, die Sarajevo am Anfang des Krieges verlassen haben. Sie erlitten nicht dieselben furchtbaren Dinge, die wir erlebt haben. Aber sie sind auch traumatisiert. Sie mussten ihr Zuhause verlassen und verfolgten täglich die News, versuchten Essen und Geld an Bekannte und Familien zu schicken. Gehen oder Bleiben – diese Frage stelle ich mir heute noch. Wenn man an einem solchen Ort wie auf dem Balkan lebt, denkt man jeden Tag ans Weggehen (lacht).

 

Damals, als Sie das erste Filmfestival mitorganisiert haben, waren Sie noch sehr jung. Wie kam es dazu, dass Sie sich fürs Filmschaffen interessiert haben? 

Obala Art Centar, die Organisation hinter dem Sarajevo Filmfestival, hatte das erste und einzige Kino gegründet, das während der Belagerung lief. Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich das Kino besuchte. Es befand sich im Kellergeschoss der Akademie der Darstellenden Künste. Um zum Kino zu gelangen, musste man durch eine Bar gehen, die sehr klein und schäbig war, ein punkiger Ort und dort fand gerade ein Konzert einer alternativen bosnischen Band statt. Es standen viele interessante Leute herum. Und ich sagte zu mir: Wow, das ist der Ort, an dem ich sein möchte!

Gehen oder Bleiben – diese Frage stelle ich mir heute noch.

Und wie kamen Sie dann dazu, bei der Organisation des Filmfestivals mitzuwirken?

Wir hörten damals viel Radio. Es benötigte wenig Energie, man konnte es sehr einfach am Akku des Autos anschliessen. Im Radio informierten sie dich ausserdem, wie sicher die Situation in den verschiedenen Quartieren der Stadt gerade ist und wo Schusswechsel stattfinden. Sehr wichtig! Und übers Radio wurden Grüsse und Lebenszeichen von Bekannten und Familienmitgliedern aus verschiedenen Stadtteilen übermittelt. Es war ja zu gefährlich, rauszugehen und man hatte auch keine Telefone. Und einige Monate, nachdem ich zum ersten Mal im Kriegskino war, hörte ich im Radio eine Ansage, dass Obala jemanden sucht, der gut Englisch spricht. Also setzte ich mich auf mein Fahrrad, fuhr dorthin und hatte das erste Vorstellungsgespräch meines Lebens. Und so kriegte ich den Job! Ich übersetzte zuerst für ausländische Künstlerinnen und Künstler. Und sehr bald schon wurde das Filmdepartement von Obala gegründet und ich zu einer der Junior Editors.

Einige Monate nach der Durchführung des ersten Sarajevo Filmfestivals endete die Belagerung der Stadt und der Krieg. Wie ging es dann mit dem Festival weiter? 

Nach der ersten Ausgabe war unser nächstes Ziel eine zweite Ausgabe, was auch immer kommt. Wir wussten damals noch nicht, dass der Krieg zu Ende sein würde. Nach einer Weile verliert man die Hoffnung in diese Friedensverhandlungen. Aber der Krieg endete und plötzlich wurde es möglich, über eine andere Art von Festival nachzudenken. Wir wollten ein grosses Openairkino veranstalten, inspiriert von der Piazza Grande in Locarno. Anfangs schien dies eine Mission Impossible zu sein. Schon nur: Woher sollten wir Geld für 3000 Stühle kriegen? Aber es gab viele Leute und Organisationen aus aller Welt, die uns unterstützen. Für uns war das wahnsinnig wichtig. Sie müssen sich das so vorstellen: Während des Krieges stellte ich mir vor, der Krieg würde wie auf den Bildern des Zweiten Weltkriegs enden – die Sieger fahren durch die Strassen und wir werfen ihnen Blumen zu. Es würde eine Art Katharsis geben. Aber das passierte nicht. Eines Tages hiess es einfach: Ach ja, der Krieg ist zu Ende. Und langsam, langsam wurde die Welt wieder ein etwas normalerer Ort. Aber auch ein sehr schmerzhafter Ort. Denn alles war zerstört und es gab keine Jobs, es gab nichts. Und dieses Openairkino zu organisieren, war die ersehnte Katharsis. 3000 Leute, die draussen unter den Sternen einen Film schauen, ohne Angst vor Bomben oder Scharfschützen haben zu müssen…  Für uns war das eine Befreiung.

Sehr schnell haben Sie auch damit begonnen, serbische Filmschaffende ans Festival einzuladen.  

Es gab sogar einige, die schon ans erste und zweite Filmfestival gereist sind.

War das eine kontrovers diskutierte Entscheidung? 

Es ist immer kontrovers, wenn man eine Idee in den Raum setzt. Aber sobald man mit den Leuten spricht, sie trifft, ist es nicht mehr kontrovers, sondern einfach normal. Ich glaube auch, dass Künstler viel mutiger sind in dieser Hinsicht als Politiker. Künstlerinnen und Künstler wollen unterschiedliche Ansichten und Meinungen hören. Und Raum für Diskussion zu schaffen, ist definitiv besser als Ignoranz, die nur in Schlechtem enden kann. Kunst kann diese Plattform schaffen und das Festival hat das schon sehr früh gefördert. Nach einigen Jahren haben wir beschlossen, die geographische Region Südosteuropa zum Fokus des Festivals zu machen. Alle Länder in dieser Region hatten schwierige Transitionen in den 90er-Jahren hinter sich, auch wenn nicht überall Krieg herrschte. Und wir litten alle unter der Tatsache, dass wir nicht ohne Visa reisen konnten, die meisten grossen Filmfestivals blieben uns also verschlossen. Aber nach Sarajevo konnten und können alle reisen. So wurden wir zu einem Hotspot des regionalen Filmschaffens und fanden unseren Platz unter all den verschiedenen Festivals. Ich kenne so viele Filmschaffende aus der Region, aus Nordmazedonien, aus Serbien, aus Slowenien, aus Kroatien, und so weiter, die sich in Sarajevo zuhause fühlen. Es ist zu ihrem eigenen Festival geworden. Und das ist wahrscheinlich das wertvollste Erbe des Sarajevo Filmfestivals.

3000 Leute, die draussen unter den Sternen einen Film schauen, ohne Angst vor Bomben oder Scharfschützen haben zu müssen…  Für uns war das eine Befreiung.

Dieses Jahr fand die dreissigste Ausgabe des Filmfestivals statt. Inwiefern prägt die Geschichte der Belagerung und des Krieges das Festival bis heute?

Es ist unmöglich, diese Erfahrung des Krieges zu ignorieren. Es wäre einfacher, es zu ignorieren, wenn auf der Welt Frieden herrschen würde, aber das ist leider nicht der Fall. Ich denke, dass wir als Festival und als Menschen, die diese Kriegserfahrung mit uns tragen, die Verantwortung dafür haben – nicht Held*innen oder Opfer zu sein – sondern die Verantwortung haben, darüber zu sprechen. In den letzten Jahren haben wir deshalb auch das Programm «Dealing with the Past» initiiert. Es begann als sehr konkrete Reflektion unserer Erfahrungen dieses Krieges. Aber mittlerweile geht es darum, über verschiedenste soziale Themen und Problematiken zu sprechen, auch aktuelle.

Wie erleben Sie die heutige Stimmung in der Region? 

Der Balkan ist ein sehr seltsamer Ort. Wenn man die News liest, möchte man explodieren. Da scheint es, als hätte sich in den letzten dreissig Jahren nichts geändert. Die Rhetoriken von Trennung und Nationalismus sind immer noch sehr präsent sind. Aber auf der anderen Seite, wenn man raus geht und mit den Leuten auf der Strasse spricht, sieht man viel Schönes, das Hoffnung gibt. Der Alltag der Menschen unterscheidet sich radikal vom politischen Diskurs. Ich glaube, der politische Diskurs versucht, uns zu überzeugen, dass die Dinge viel schlechter sind, als es eigentlich der Fall ist. Denn das ist der einzige Weg, wie das politische Establishment überleben und sich an der Macht halten kann. Aber unglücklicherweise sind wir diejenigen, die diese Politiker*innen am Ende des Tages wählen. Ich verstehe nicht, was hier zwischen dem täglichen Leben und den Wahlzetteln passiert.

Der Alltag der Menschen unterscheidet sich radikal vom politischen Diskurs.

Wie hat sich das Filmschaffen der Region in den letzten 30 Jahren verändert? 

Es hat sich sehr stark verändert. Vor dreissig Jahren wurden nur wenige Filme produziert, aber noch weniger Filme schafften es über die Grenze der Länder, in denen sie produziert wurden. Das änderte sich mit einigen grossen Erfolgen wie zum Beispiel «No Man’s Land» von Danis Tanović, der damit den Oscar gewann. Die Region öffnete sich langsam und das Sarajevo Filmfestival erleichterte diese Öffnung. Hier wurden Koproduzenten und Produzenten mit lokalen Filmemachern zusammengebracht. Vor 25 Jahren hätte ich nicht gewusst, welche ich als die besten Regisseure unserer Region benennen sollte. Aber jetzt gibt es dutzende!

Umso schöner, dass dieses Filmschaffen am diesjährigen Berner Filmfestival Kino Kosova im Fokus steht. Bosnien und Herzegowina wurde als Gastland eingeladen. Was verbindet den Kosovo mit Bosnien und Herzegowina? 

Die beiden befanden sich natürlich lange Zeit unter demselben jugoslawischen Dach. Und sie haben beide schreckliche Kriege und einige der schlimmsten Kriegsverbrechen erlebt. Aber interessanterweise gibt es nicht besonders viele Verbindungen zwischen uns. Wir sprechen eine andere Sprache, wir teilen eine weniger ähnliche Kultur, wie wir sie zum Beispiel mit Serbien, Montenegro oder Kroatien teilen. Und trotzdem gibt es viele Gemeinsamkeiten und ich habe mich sehr über die Anfrage unserer Kollegen des Kino Kosova Festivals gefreut.

Sie haben eine Auswahl verschiedenster bosnischer Filme ans Kino Kosova Festival mitgebracht. Wie haben Sie die Auswahl getroffen? 

Grossartig war, dass in den letzten Jahren viele Filme herausgekommen sind, die sehr viel diverser sind als das, was man von bosnischem Film erwarten würde. Die meisten Leute denken einfach an Krieg. Diese Filme sind sehr anders. Es gibt zwar einen Dokumentarfilm über Kriegsverbrechen. Aber es ist ein sehr künstlerischer und experimenteller Film. Es geht mehr darum, durch die Visuals die Energie des Krieges zu spüren zu kriegen. «Excursion» ist ein Teenage-Drama, das die Welt der Jugendlichen in Sarajevo widerspiegelt und ihre Probleme ins Zentrum stellt, die sehr ähnlich sind wie im Rest Europas. «The Ballade» von Aida Begić dagegen ist eigentlich ein Familiendrama. Eine Mutter verlässt ihren Ehemann und ihre Tochter und versucht, einen neuen Weg für sich zu finden. Die Filme sind wirklich sehr unterschiedlich. Und was mir auch gefällt: Alle Langspielfilme wurden von Frauen gemacht.

Das Motto des diesjährigen Festivals ist «Contemplating». Was hat «Contemplation» für Sie mit dem Kino zu tun? 

Ich finde es sehr interessant. «Contemplating» ist für mich sehr verbunden mit träumen. Etwas, was wir machen, wenn wir einen Film schauen, wenn wir schlafen und träumen, wenn wir unsere Zukunft planen. Wir kontemplieren, wir träumen von einer besseren Welt. «Contemplation» ist auch nie negativ, es ist positiv konnotiert. Es ist der Ort, an dem wir sein möchten. Wenn wir kontemplieren, geht es uns gut. Ich finde, es ist eine grossartige Metapher für das Kino. Einen Film zu schauen, bedeutet gewissermassen zu kontemplieren, über ein Thema zu sinnieren und nachzudenken. Ohne irgendetwas dazu sagen zu müssen.