Als ich in die Schweiz kam, stellte ich fest, dass die Mehrheit der Schweizer*innen ihre Kinder gleich behandelt, egal ob Mädchen oder Junge.
Ganz anders war es in meiner Heimat. Zu meiner Zeit wurden die Kinder unterschiedlich erzogen. Das fing meist schon mit der Geburt an. Über die Ankunft einer Tochter freute sich kaum jemand. Im Gegenteil: Trauer und Sorgen kamen häufig hoch. Eine Last mehr, hiess es. Töchter waren nicht erwünscht, weil sie in der Familie «zu nichts Nutz» waren. Doch dann mussten sie trotzdem bereits früh überall tüchtig anpacken: im Haushalt, beim Grossziehen der kleineren Geschwister, bei den Arbeiten auf dem Feld. Sie sollten alles können und mussten jeden in der Familie respektieren und jedem gehorchen. Nur zu sagen hatten sie nichts. Sich den Eltern oder den Brüdern zu widersetzen, lag nicht drin. Wer es doch tat, riskierte viel. Zurechtweisungen und körperliche Gewalt waren ihnen sicher.
Wenn der Sohn heiratete, war es selbstverständlich, dass seine zukünftige Frau auch seinen Eltern gehorchte und später, wenn nötig, auch für deren Pflege zuständig war.
Die Töchter wurden sehr jung verheiratet, manchmal mit weniger als 20 Jahren. Mit einem Mann, den die Familie aussuchte, und es war klar, dass sie zur Familie ihres Mannes ziehen mussten. Dort hatte sie noch weniger Freiheiten als in der eigenen Familie, musste wie eine Magd arbeiten und jedem dienen. Beim Hochzeitsfest bekam sie vielleicht Kleider oder Schmuck geschenkt. Das war aber alles, was sie aus dem Haus ihres Vaters mitnehmen durfte. Danach besuchte sie nur ab und zu ihre Familie. Zu sagen hatte sie noch weniger als vor der Heirat.
Ganz anders der Sohn: Seine Geburt wurde gefeiert. Er wurde vergöttert und genoss alle Freiheit, seinen Alltag zu gestallten. Er wurde überall bevorzugt und wenn es die finanziellen Verhältnisse erlaubten, verwöhnt. Er bekam alle Rechte und durfte Vieles. Wenn er gross wurde, musste er Verantwortung übernehmen. Er war die Rettung der Familie. Nicht nur, weil er den Stamm weiterführt, sondern auch, weil er später die Altersvorsorge der Eltern sichern musste. Die meisten Albaner hatten damals keinen Verdienst und somit keine Rente. Und auch wer eine hatte, konnte damit nicht einmal einen Viertel des täglichen Bedarfs abdecken. Deshalb mussten Söhne für die Eltern im Alter aufkommen. Wenn der Sohn heiratete, war es selbstverständlich, dass seine zukünftige Frau auch seinen Eltern gehorchte und später, wenn nötig, auch für deren Pflege zuständig war.
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Für viele hier – auch für meine Kinder! – tönt das unbegreiflich. Aber es hat mit der Geschichte der Albaner zu tun. Kosovo-Albaner mussten immer ums Überleben kämpfen. Hunderttausende wurden bereits im Osmanischen Reich während 500 Jahren unterdrückt, vertrieben und ermordet. Ähnlich ging es später unter dem serbischen Regime weiter. Wenn es genug Söhne gab, war die Chance grösser, dass einer von ihnen überlebte, und die Familie versorgen konnte. Dazu kam, dass die Männer früh schwere körperliche Arbeit leisten mussten. Deshalb war es wichtig, dass man genug Söhne bekam und dass sie körperlich stark waren. Nur Männer gingen raus in die Welt, Frauen blieben zuhause.
Töchter waren nicht erwünscht, weil sie in der Familie zu nichts Nutz waren. Doch dann mussten sie trotzdem bereits früh überall tüchtig anpacken:
Historisch kann ich das nachvollziehen. Aber ich kann nicht begreifen, dass einige meiner Landsleute auch heute hier, in der Diaspora, immer noch nach diesem Muster leben. Töchter müssen für alles und jedes um Erlaubnis bitten. Auch wenn sie längst erwachsen sind. Sie müssen erzählen, wo und mit wem sie unterwegs sind. Den Sohn fragt keiner. Er kommt und geht, wann er möchte, und er macht, was er will. Und diese Haltung seiner Familie, diese Privilegien, wirken sich aus auf seinen Charakter.
Ich bin froh, dass meine Enkelin hier zur Welt kommen durfte. Sie wurde voller Freude von der ganzen Familie erwartet und sie ist unser Sonnenschein. Ich bin glücklich darüber, dass sie dereinst nicht die Schwierigkeiten haben wird, mit denen ihre Grossmutter noch kämpfen musste.