Luzid und rätselhaft: Jörg Steiner

von Fredi Lerch 20. August 2014

Das 5. Berner Literaturfest erinnert mit einer Hommage an den Schriftsteller Jörg Steiner (1930-2013). Unter dem Titel «Auch das könnte wahr sein» ist zu diesem Anlass ein Band mit Würdigungen von 22 Autoren und Autorinnen erschienen.

Jörg Steiner war ein typischer Vertreter der nonkonformistischen Lehrerliteratur: Er arbeitete zuerst im Heim für Schwererziehbare in Aarwangen, dann als Primarlehrer in Biel, später in Nidau. Aber all jenen, die – nicht immer zu Unrecht – die deutschschweizerische «Lehrerliteratur» belächeln, um sie ignorieren zu können, muss man entgegenhalten: Immerhin gehörte auch Steiner zu diesen Autoren.

Wie bei selten einem wirkten bei Steiner Auftritt und Text kongruent: Luzid, charismatisch und immer ein bisschen rätselhaft. Am 20. Januar 2013 ist er in Biel gestorben. Jetzt erinnert das 5. Berner Literaturfest nachdrücklich an ihn. An zwei Buchvernissagen in Bern und Biel wird das Buch «Auch das könnte wahr sein» vorgestellt, eine «Hommage an den Geschichtenerzähler Jörg Steiner».

«Wir spielten die alten Männer und wurden dabei Woche für Woche älter, bis wir alt waren.»

Peter Bichsel

22 Autoren und Autorinnen haben Beiträge geliefert, Peter Bichsel, Steiners Freund, deren drei, unter anderem seinen Nachruf «Meine langen Reisen nach Biel»: Die «schönste und liebste» Bahnreise sei ihm die donnerstägliche von Solothurn nach Biel gewesen, wenn er jeweils Steiner besucht habe: «Wir tranken Rotwein und freuten uns, zusammen zu sein. Und wir spielten dabei eigentlich von Anfang an die alten Männer, denen die Welt fremd geworden ist […] und wurden dabei Woche für Woche älter, bis wir alt waren.»

Gekannt haben sich die beiden – so hat sich der Schriftsteller Otto F. Walter (1928-1994) einmal erinnert – schon vor dem Herbst 1961. Damals sei er, als Leiter des Literaturprogramms im väterlichen Walter-Verlag in Olten, in einer Solothurner Beiz mitten in einer grösseren Gruppe von Leuten gesessen. Plötzlich habe Steiner, der neben ihm sass, über den Tisch auf einen jungen Mann gezeigt und gesagt, der heisse Bichsel, diesen Namen müsse er sich merken, weil: «Der kann schreiben.» So war das damals: Steiner hat Bichsel entdeckt und Otto F. Walter hat 1964 Bichsels Erstling herausgebracht.

«Für Tanja, die Liebliche, / weil das Leben / die Ausnahme ist.»

Jörg Steiner

Im Buch finden sich viele andere Steiner-Episoden, zum Teil berührende. Dieter Bachmann zum Beispiel zitiert aus einem späten Steiner-Brief, als dieser zunehmend Mühe mit dem Atmen hatte: «Und ich, ja, ich sitze auf jede Bank unterwegs in der Stadt. Es gibt nicht mehr so viele Bänke wie vor zehn Jahren für Nichtstuer, Streuner, Alkis und andere Unbrauchbare.» Raphael Urweider erinnert sich, wie er einmal als Bieler Gymnasiast Unterricht schwänzend in der leeren Mensa auf den konzentriert schreibenden Jörg Steiner gestossen ist: «Ich möchte Dir, lieber Jörg, danken, dass Du mir vor mehr als zwanzig Jahren einen Moment geschenkt hast, der in mir vielleicht eine Art Berufswunsch geweckt hat.» Die ukrainische Autorin Tanja Maljartschuk erzählt, wie ein Freund ihr in Biel Steiner vorstellen will und sie sich in einem Antiquariat schnell einen Steiner-Band schnappt, um den Autor um eine Widmung bitten zu können. Steiner schrieb: «Für Tanja, die Liebliche, / weil das Leben / die Ausnahme ist.»

Das Buch bietet keine literaturgeschichtliche Würdigung, aber es ist eine gelungene Hommage. Zwar sind einige Passagen derart persönlich, dass man, ohne voyeuristische Begabung, peinlich berührt wird («‘Du bist eine schöne Frau’, sagte er unvermittelt», Sabine Gruber). Und es gibt einige für mich ärgerliche Passagen, Abschnitte, die ohne klaren Bezug zum Thema auf Teufel komm raus vor sich hinsteinern – vermutlich in der Hoffnung, epigonale Originalitätereien seien literarisch bedeutend. Jedoch sind die Skizzen insgesamt so vielfältig, dass das eigene Bild, das man sich von Steiner über die Jahre gemacht hat, auch so an Kontur und Tiefenschärfe gewinnt.

«‘Bleib erschütterbar und widersteh.’ Danke, Kollege.»

Adolf Muschg

Eine ganze Reihe von Beiträgen geht essayistisch über das bloss Episodische oder das Selbstreferentiell-Sprachkünstlerische hinaus. Die Linkshänderin Katja Lange-Müller zum Beispiel ist als Kind in der DDR wie der Linkshänder Steiner in der Schweiz zur Rechtshändigkeit genötigt worden. Beim Wiederlesen findet sie den stillen Protest gegen diese gesellschaftliche Nötigung in Steiners Romanfiguren: «Scheinbare Demut vor dem Schicksal und unscheinbare Subversion bedingen und konterkarieren einander.» Adolf Muschg meint vermutlich nicht etwas ganz anderes, wenn er seinen Beitrag mit den Worten schliesst: «‘Bleib erschütterbar und widersteh.’ Danke, Kollege.»

Unbedingt lesenswert ist Anne Webers Essay zur Frage, warum Jörg Steiner zwar als «Jurasüdfuss-Autor», niemals aber als «Alpennordkopf-Autor» bezeichnet werden kann. Sie hat auch jenen Satz geschrieben, der Steiners Prosa, wie ich sie verstanden habe, am besten charakterisiert: «Nicht wenige der aufgeworfenen Fragen sind sogenannt soziale oder politische, Fragen nach Gerechtigkeit und Ausgrenzung; dahinter aber steht Umfassenderes: Kann das, was ist und geschieht, überhaupt mit Worten erfasst werden?»