Lützerath im Emmental

von Meret 28. Januar 2023

Während der Zugfahrt an ihren neuen Wohnort stellt sich Kolumnistin Meret vor, wie es wäre, wenn ihr Dorf für den Abbau von Rohstoffen geräumt würde. Und findet dabei neue Entschlossenheit.

Es ist ein düsterer Abend im Januar und ich bin froh, nach einem Nachmittag draussen an der Kälte endlich im beheizten Zug zu sitzen. Der Wagen ruckelt über die Weichen am Ausgang des Berner Bahnhofs und gleitet dann geschwind dem Emmental entgegen. Vor einigen Wochen bin ich in ein Dorf am Rande dieser Region gezogen. Meine Wohnung ist eindeutig baufällig: Der Boden ist schief, die Wände bröckeln und die Zimmer sind nicht wirklich isoliert.

Bei meinem Einzug war mir bewusst, dass ich nicht ewig hier leben kann, weil das Haus altersbedingt abgerissen werden muss. Das ergibt durchaus Sinn, denn in dieser Wohnung verbrauche ich ein Vielfaches der Energie, die ich in einem sanierten Gebäude verbrauchen würde. Also alles gut und logisch.

Das Vibrieren meines Handys unterbricht die Gedanken an meine Wohnung und ihre Zukunft. Doch sobald ich die eingetroffene Nachricht gelesen habe, kreisen meine Gedanken erneut um ein sehr eng verwandtes Thema.

Der Abriss Lützeraths steht für viel mehr als nur für das Verschwinden eines Dorfes.

Niedergeschlagen stelle ich mir vor, was wäre, wenn das ganze Dorf, in dem ich nun wohne, abgerissen werden würde. Ein Dorf, das vielen Leuten ein Zuhause ist, ein Dorf, das lebt und zwischen grünen Hügeln ruht. «Absurd», denke ich, und weiss gleichzeitig, dass diese Absurdität andernorts Realität ist. Im deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen liegt das Dorf Lützerath, welches genau dieses Schicksal erfahren muss. Es besteht kein logischer Grund, der den Abriss des Dorfs rechtfertigen würde. Bloss spielt Logik in einem System, das von Geld gesteuert wird, offenbar keine Rolle.

Der Energiekonzern RWE behauptet, dass das Abbaggern Lützeraths vonnöten sei, um die Energieversorgung Deutschlands gewährleisten zu können. Lützerath steht auf Boden, der grosse Mengen von Braunkohle enthält, und genau diese Braunkohle soll zur anschliessenden Verbrennung gefördert werden. Verschiedene Studien widerlegen diese Behauptung, doch die Führungspersonen des profitgierigen Grosskonzerns scheren sich nicht um eine wissenschaftliche Faktenlage und haben ihren Willen durchgesetzt: Über zwei Jahre lang haben unzählige Aktivist*innen in friedlichem Protest Lützerath besetzt und zu schützen versucht, doch anfangs Januar räumte ein Grossaufgebot der Polizei gewaltsam die Personen, die sich gegen den Abriss des Dorfes gewehrt hatten.

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Schon schade, gewiss, aber ein Dörfchen auf Kosten der Energieversorgung geht doch klar?

Der Abriss Lützeraths steht für viel mehr als nur für das Verschwinden eines Dorfes. Mit der Gewinnung dieser Braunkohle rast Deutschland am 1.5-Grad-Ziel des Pariser Abkommens vorbei, ohne beschämten Blick zum Fenster hinaus, ohne «Halt auf Verlangen».

Die Schweiz beteiligt sich ebenfalls an dieser klimaschädlichen Handlung. Die UBS, die Credit Suisse und die Investmentfirma Pictet finanzieren den Konzern RWE mit und machen sich somit ihre Hände schmutzig. Sie glauben sich von Verantwortung befreit, und genau deswegen ist es essenziell, dass wir als Bevölkerung hinschauen und wissen, was vor sich geht, selbst wenn unser Handlungsspielraum beschränkt ist.

Die Durchsage des Ortsnamens kündet meine baldige Ankunft an. Ich schaue durch das Fenster und sehe, wie sich mein Spiegelbild und die Lichter der Häuser in der Abenddämmerung überlappen und bin froh, dass mir die vertrauten Lichter entgegenblinzeln. Bei der Vorstellung, dass mir auch eine triste Grube dunkel hätte entgegengähnen können, wenn mein Dorf auf Bodenschätzen stehen würde, steigt eine Entschlossenheit in mir auf: Ich werde kämpfen und ich werde nicht schweigen, damit auch viele andere Menschen den Entschluss zum Kampf fassen.