Ludwig Hohls Eispickel

von Susanne Leuenberger 1. März 2022

Er ist Nationalgut: Schnee prägt die hiesige Literatur, Forschung und Freizeit. Noch. Die Schweizerische Nationalbibliothek widmet dem weissen Element und der Trauer um sein Verschwinden nun die Ausstellung «Schnee. Das weisse Wunder».

Vor 2,4 Milliarden Jahren fiel der erste Schnee, etwa 46 000 Jahre ist es her, seit erstmals eine Schneeflocke auf die Haut eines Menschen traf – denn seit dann besiedelten unsere Vorfahren den hiesigen Alpenraum. Auch wenn man wohl nicht ganz so weit zurückgreifen müsste, um seine nationale Bedeutung unter Beweis zu stellen: Das weisse Element gehört zum Selbstverständnis der Schweiz, ist quasi Nationalelement, es prägt die sinnliche Erfahrung, weckt den Forscher*- und Sportler*innengeist und ist zentrale Vermarktungsstrategie der Tourismusdestination Schweiz. Was wäre sie also ohne ihn? Bekanntlich keine rhetorische Frage, der menschengemachte Klimawandel macht ihm zu schaffen, Schnee fällt immer seltener, verzieht sich in immer höhere Lagen. In hundert Jahren dürfte der letzte Gletscher im Alpenraum geschmolzen sein. Wie Schweizer Autor*innen, Künstler*innen und Forscher*innen den Schnee und sein Verschwinden zum Thema machen, das beleuchtet die neueste Schau der Schweizerischen Nationalbibliothek.

Dabei konnte Kurator Hannes Mangold aus dem Vollen schöpfen. «Eine Unmenge an Literatur, Fotografie und Forschungsliteratur in unseren Sammlungen widmet sich dem Thema. Da eine Auswahl zu treffen, fiel schwer», sagt er, zumal alles in dem einen Aus­stellungsraum der Nationalbibliothek Platz finden müsse. Und es sind tatsächlich erstaunlich viele Aspekte, die die Schau, die als Rundgang angelegt ist, aufgreift.

Eiskernbohrungen und Barryvox

Ob die Besucherin sich dem Schnee dabei zuerst als Forschungsgegenstand annähert oder von der Kunst her einsteigt, entscheidet sie selber, die Tour ist in beide Richtungen begehbar. Beginnt man mit der Forschung, so erfährt man etwa, dass Schweizer*innen im 19. Jahrhundert Pioniere der Schnee- und Eisforschung waren. Auch an Grönland- und Arktisexpeditionen waren sie früh beteiligt, heute ist die Schweiz feder­führend in der Erforschung des Klimawandels, indem sie etwa am Oeschger-Institut an der Universität Bern Eiskernbohrungen auswertet. Und: Ab den 1940er-Jahren untersuchte das Schweizerische Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos als weltweit erste Forschungsstätte die Beschaffenheit des Schnees. Die Erstellung von Schneeprofilen hatte eine traurige Vorgeschichte: Harte Winter und schwere Lawinenniedergänge forderten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Unzahl an Todesopfern. Im Katastrophenwinter 1951 starben alleine 265 Menschen. Fotografien und Texte aus der Gemeinde Airolo zeugen von der zerstörerischen Wucht der Schneemassen, leiten aber auch zur Dokumentation des Lawinenschutzes über – und zur sportlichen Bezähmung des Bergs. Zu sehen ist hier etwa das Barryvox, ein Suchgerät, mit dem lawinenverschüttete Sportler*innen ab den 1970er-Jahren Signale aussenden konnten: auch dies eine Schweizer Erfindung, an der gar die Armee beteiligt war. Das Gerät und andere ausgestellte Sportuten­­silien sind Leihgaben des Alpinen Museums, die die Text-, Ton- und Bild­dokumente aus dem Bestand der Nationalbibliothek ergänzen.

Bei der Zusammenstellung der Schau sei ihm nochmals bewusst geworden, wie zentral Schnee im kulturellen Fundus der Schweiz tatsächlich sei, sagt Hannes Mangold. Und das in diversesten Bereichen: «Ohne Schnee wäre die Schweizer Identität, wäre die Schweizer Forschung, das Freizeitverhalten und die Kunst ganz anders.»

Schellen-Ursli im grossen Schnee

Und oft gingen Sportbegeisterung und deren literarische Bearbeitung Hand in Hand: Gezeigt werden so etwa Tourenbuch und andere Aufzeichnungen des Schriftstellers Ludwig Hohl, der seine Grenzerfahrungen am Berg in der parabelhaften Erzählung «Bergfahrt» festhielt. Ein Eispickel, der ihm einst beim Sturz in eine Gletscherspalte das Leben gerettet haben soll, ist ebenfalls ausgestellt, ebenso die mutmasslichen Holzskier von Hermann Hesse. «Ob es sich tatsächlich um die Sportgeräte von Hesse oder eher um jene seiner Frau handelt, konnten wir allerdings nicht gänzlich klären», meint Mangold und schmunzelt, zumal verschiedenste Kulturinstitutionen über Skier von Hesse verfügen sollen.

In der Ausstellung nicht fehlen darf schliesslich Robert Walser, dessen fotografisch festgehaltener Tod im Schnee – das Foto fehlt wohltuend in der Schau – geradezu emblematischen Status erlangt hat. Zu sehen gibt es hingegen eine von Bruder Karl illustrierte Sammlung seiner Schneegedichte sowie Walsersche Handschriften. Auch die international erfolgreichen Bilderbücher von Alois Carigiet und Selina Chönz, deren Prota­gonist Schellen-Ursli sich öfters im grossen Schnee verliert, um daraus heil wieder aufzutauchen, gehören zu den Exponaten.

Vergängliches Weiss

Und schliesslich findet sich da auch lyrisch festgehaltene Trauer und Sorge um das Ende des Schnees. Das Gedicht «Mittwinter-Kind» der 2010 verstorbenen Erika Burkhart, deren Werk zurzeit wiederentdeckt wird, kreist um den Schnee der Kindheit – und dessen Verschwinden, vielleicht nicht nur als Metapher des eigenen Vergehens, wenn es in den letzten Zeilen heisst: «Geh! Geh weglos die Wind- und Wild­spur, Mittwinter-Kind, im Schnee von einst.»

Eine ästhetische und thematische Klammer der Schau bilden die faszinierenden Fotoarbeiten des im Jahr 2000 verstorbenen Klimaforschers und Fotografen Andreas Züst, dessen Nachlass sich im Besitz der Schweizerischen Nationalbibliothek befindet. Seit den 1970er-Jahren dokumentierte Züst das Vorkommen und den Rückgang des Schnees, etwa in Aufnahmen, die in Grönland entstanden und die Veränderung der arktischen Landschaft bezeugen. Züsts Bilder sind poetisch und wissenschaftlich-dokumentarisch zugleich. Seinen analogen Fotografien ist die Leidenschaft für das Element anzuspüren. Nur schon für diese Bilder, aber nicht nur darum, lohnt sich ein Besuch dieser kleinen, aber feinen Ausstellung.