Zu einer lebendigen Demokratie gehört eine starke Zivilgesellschaft – eine Gesellschaft, die ihre Mitglieder unabhängig von den staatlichen Instanzen aktiv gestalten. Welchen Unterschied diese gesellschaftliche Komponente ausmacht, erhalten wir gerade im östlichen Europa vorgeführt: Während die Ukraine in den letzten Jahrzehnten – durchaus mit Mühen – eine vielfältige Zivilgesellschaft aufgebaut und bewahrt hat, ist die russische Zivilgesellschaft mehr oder weniger reglos in den autoritären, faschistischen Fängen eines übermächtigen Staates versunken.
Alexis de Tocqueville hat dieses Phänomen bereits in seinem Bericht Über die Demokratie in Amerika, der auf den Reiseerfahrungen des Jahres 1831 aufbaute, analysiert: «Der Despotismus […] sieht in der Vereinzelung der Menschen das sicherste Unterpfand seiner Dauer, und er bemüht sich gewöhnlich sehr sorgfältig, sie [die Menschen] voneinander abzusondern. Kein Laster des menschlichen Herzens sagt ihm so sehr zu wie die Selbstsucht…» Durch die Beschäftigung mit öffentlichen Angelegenheiten «werden sie [die Bürger] notwendig ihren persönlichen Interessen entzogen und ab und zu aus ihrer Selbstschau herausgerissen.»[1]
Zivilgesellschaftliche Institutionen, die unabhängig und autonom von der Staatsgewalt sind, bilden das Fundament einer demokratischen Gesellschaft.
Im Fortgang seiner Ausführungen beschreibt de Tocqueville das amerikanische Vereinswesen. Er unterstreicht, dass der Staat nicht in der Lage sei, die «unendliche Menge kleiner Vorhaben», zu deren Verfolgung sich die Menschen zusammenschlössen, selbst zu bewältigen. Wo aber die Staatsgewalt immer weiter zunehme und die zivilgesellschaftlichen Vereinigungen übernehme oder verdränge, da sei die «Kraft eines demokratischen Volkes» gefährdet.[2]
Eigenen Zielen verpflichtete zivilgesellschaftliche Institutionen, die die Einzelnen über ihre Selbstsucht und Selbstschau hinausheben, die unabhängig und autonom von der Staatsgewalt sind, bilden das Fundament einer demokratischen Gesellschaft. Diese Form der Zivilgesellschaft funktioniert zu grössten Teilen nur dank freiwilligem Engagement: «Freiwilliges Engagement ist die unentgeltliche Investition von persönlichen Ressourcen (Arbeitskraft, Zeit oder Geld) zum Wohl anderer.»[3] (Unentgeltlich schliesst dabei kleinere Aufwandentschädigungen mit ein.) Dieses «freiwillig» oder auch «ehrenamtlich» genannte Engagement gilt als ein wichtiges soziales Kapital der Schweiz.
Ein ehrenamtliches, freiwilliges Engagement trägt nach älterem Verständnis insofern zur «Ehre» der ausübenden Person bei, als es Anerkennung bedeutet für einen Menschen, der tugendhaft zum Wohlergehen anderer beiträgt (Aristoteles, Thomas von Aquin). Die «Ehre» des Amts muss also durch Verdienste für die Gemeinschaft erworben werden. Sie wird nicht durch die Verleihung eines Amts automatisch erlangt.
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Indem ein solches Amt freiwillig und im Verhältnis zum Aufwand weitgehend unentgeltlich ausgeübt wird, ermöglicht es im Unterschied zu bezahlter Erwerbsarbeit erst die Unabhängigkeit und Autonomie, die für die Qualität dieses Engagements zentral sind. Denn erfolgt ein solches Wirken gegen Bezahlung, verliert es an moralischer Glaubwürdigkeit. Es wird, mit Kant gesprochen, heteronom, fremdbestimmt, indem es der Befriedigung eigener (materieller) Motive dient. Die Ebene der «Selbstschau» und «Selbstsucht» wird dann gerade nicht verlassen.
Hierzu wird häufig eingewendet, dass sich nur Vermögende die Ausübung eines Ehrenamts leisten könnten. Ehrenamtliches Wirken bedeutet ab einem gewissen Umfang ohne Zweifel materiellen Verzicht. (Ich kenne viele Leute, die bewusst von einem Teil ihres Erwerbseinkommens abgesehen haben, um ein aufwändiges Ehrenamt ausüben zu können, weil sie dabei vollständig unabhängig sein wollten.) Zugleich zeigt die stetige Zunahme von Teilzeitarbeit, dass gut ausgebildete und meist gerade in dieser Ausgangslage nicht schlecht verdienende Menschen durchaus auf einen Einkommensteil verzichten könn(t)en. Es geht also mehr um eine persönliche Prioritätensetzung – um ein Wollen und nicht um ein Können.
Das Ehrenamt erlaubt allen von uns, urmenschliche Bedürfnisse zu befriedigen, die nicht materieller Natur sind.
Doch weshalb üben Menschen ein Ehrenamt aus, wenn es ihnen doch materiell nichts einbringt, sondern vielmehr Verzicht bedeutet und zuweilen auch Konflikte mit sich bringt? Ehrenamtliches, freiwilliges Wirken bietet in einem höheren Masse, wenn es autonom und aus einem Pflichtgefühl gegenüber der Gesellschaft erfolgt, «Anerkennung» (Georg W. F. Hegel, Francis Fukuyama) und es ermöglicht «Resonanz» (Hartmut Rosa). Es trägt damit dem «dialogischen Charakter menschlicher Existenz» (Charles Taylor, Martin Buber) in besonderer Weise Rechnung.
Denn wir können nicht aus uns selbst Sinn erzeugen, wie wir unser eigenes Leben zufrieden mit uns selbst führen wollen. Dazu braucht es die Begegnung mit anderen Menschen. So hat der Glücksforscher Robert Waldinger «ganz allgemein festgestellt, dass Leute glücklicher sind, die sich mit Dingen befassen, die über das Selbst hinausgehen.»[4]
Genau hierin besteht das Lob des Ehrenamts. Es erlaubt allen von uns, urmenschliche Bedürfnisse zu befriedigen, die nicht materieller Natur sind. Es geht zuerst um Anerkennung. «Hegel zufolge kann ein Individuum […] nur dann selbstbewusst werden und sich selbst als einzigartiges menschliches Wesen wahrnehmen, wenn es von anderen Menschen anerkannt wird. Der Mensch ist demnach von Anfang an ein soziales Wesen: Sein Selbstwertgefühl und seine Identität sind untrennbar mit dem Wert verknüpft, den ihm andere Menschen beimessen.»[5]
Das Streben nach Anerkennung, die «Sehnsucht nach Selbsterhöhung»[6] des freien menschlichen Willens über seine materiellen Bedürfnisse (gemäss Hegel) erklärt vermutlich die Wechselfälle der menschlichen Geschichte wesentlich besser als das in erster Linie materialistische Weltverständnis von Marx. Die gegenwärtig besonders intensiv ausgetragenen Diskussionen um die Anerkennung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen illustrieren dies eindrücklich.
Trotz der etwas altertümlich anmutenden Bezeichnung scheint diese Institution gerade in unserer Zeit sehr viel Potential zu bergen.
Es geht zweitens um Resonanz. Ehrenamtliches Wirken schafft einen Resonanzraum, über den wir mit der Welt in Wechselwirkung treten und unsere gesellschaftliche Umwelt dabei in einer neuen Art und Weise erfahren können. Ein solcher Resonanzraum ermöglicht – im Medium der autonomen, aus der Selbstbezogenheit heraustretenden Ehrenamtlichkeit besonders intensiv – die Erfahrung, jenseits des (spät)modernen Steigerungs- und Konkurrenzdenkens zugunsten des Gemeinwohls selbstwirksam zu sein. Dabei eröffnet sich für die Ehrenamtlichen das Potential, «etwas zu bewegen und zu bewirken […], das von Bedeutung ist»[7] und dem auch vom gesellschaftlichen Gegenüber Sinn zugeschrieben wird.
Trotz der etwas altertümlich anmutenden Bezeichnung «Ehrenamt» scheint diese Institution gerade in unserer Zeit sehr viel Potential für unsere Gesellschaft zu bergen. Wir sollten ihr deshalb weiterhin Sorge tragen und sie an möglichst vielen Stellen der Gesellschaft fördern.
[1] Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika, Zürich 1987 (Manesse Bibliothek der Weltgeschichte), Zweiter Teil, S. 153 f.
[2] Ebd., S. 163 ff.
[3] Markus Freitag, Anita Manatschal: Unbezahlt, aber unbezahlbar. Freiwilliges Engagement als soziales Kapital der Schweiz, in: Das soziale Kapital der Schweiz, hrsg. von Markus Freitag, Zürich 2014 (Politik und Gesellschaft in der Schweiz, Bd. 1), S. 115–146, hier S. 118.[4] Der Bund, 24.12.2022.
[5] Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte, Hamburg 2022, S. 209 f.
[6] Ebd., S. 228.
[7] Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2017, S. 276.
Christophe von Werdt ist Inhaber eines KMU und seit über 20 Jahren in zahlreichen Ehrenämtern tätig, derzeit u.a. als Vizepräsident der Burgergemeinde Bern.