Literaturpreis für die Berner Lyrikerin Marie-Luise Könneker

von Stefan Bodo Würffel 19. Juni 2014

Am Dienstag 17. Juni verlieh die Literaturkommission des Kantons Bern im feierlichen Rahmen in der Dampfzentrale ihre diesjährigen Preise. Einer davon ging an die in Bern lebende Dichterin Marie-Luise Könneker für ihren Band «Asseblick». Journal B publiziert an dieser Stelle die Laudatio von Stefan Bodo Würffel, Ordinarius emeritus für Neuere deutsche Literatur an der Universität Freiburg.

Als ich das Buch «Asseblick» zum ersten Mal in die Hand nahm, war mir, obwohl aus derselben Gegend stammend wie Marie-Luise Könneker, allerdings seit 1971 in der Schweiz lebend, der Titel, dieses eigenartig anmutende Wort «Asseblick», zunächst ein Rätsel:

War das, was ich da in der Hand hielt, ein Krimi, schwedischer Provenienz womöglich? Ging es um ein Verbrechen? Allein: das Format des Buches sprach dagegen. Und auch die zwei Bildserien, die Fotos von Ernst Fischer, erschienen mir kaum krimigemäss. Sie zeigen, zumeist zweiteilig gestaltet, in der oberen Hälfte Ansichten eines Dorfes und darunter katakombenartige Schachtanlagen. Also vielleicht eine Dorfgeschichte? Aber wo waren die Menschen? Nur beim Blick in die Tiefe kann man einzelne Personen in Schutzanzügen erkennen, das Dorf selbst ist menschenleer. Also womöglich eine Dystopie? Das Leben nach dem Schrecken im Abgrund?

Als ich dann aber zu lesen begann, bin ich der Dichterin begegnet, ihrem Erzähler-Ich, und ich erkannte, was dieses Buch zuallererst ist, indem es «Gedanken und Erinnerungen an meine ferne Kindheit und Jugend» zusammenfasst: Ihr Blick zurück, «zersplittert, scharfkantig, oft schmerzhaft».

Blick in die Geschichte eines Dorfes

Es ist der Blick in die Geschichte eines Dorfes im Harzvorland, bis in die 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts zurückreichend, der Blick in die Geschichte, in der «SA marschiert» und im Winter von Stalingrad am Tag vor Weihnachten die nie gekannte Schwester der Erzählerin stirbt: «Drei Jahre später kam ich zur Welt, der Krieg war aus, die Eltern hatten wieder eine Tochter“. Erinnerungen, die schmerzen, Reflexionen, die kaleidoskopartig zersplittert das Leben im Dorf umkreisen, von Sprichwörtern und Liedzeilen, Märchenbildern und Kinderreimen getragen, eine meditative, eine poetische, eine nie sentimentale Wendung hin zur frühen Heimat der Nachkriegszeit. Zeitgeschichte und Lebensgefühl bis in die sechziger Jahre hinein, in die Kreuzberger Fabriketage in Berlin, Ulrike Meinhof im grauen Kapuzenmantel, die auf dem Trottoir hockenden Kommunarden und – mit geschärftem Blick – die eigene Humorlosigkeit der jungen Frau, – «aber an Empörung mangelte es nicht.»

Also Reflexionen aus dem auch in diesem Fall nicht unbeschädigt gebliebenen Leben? Ja, und doch viel mehr als das: denn das Dorf mit dem «Asseblick», mit der schönen «Aussicht auf das kleine Vorgebirge am Harz», hatte in der modernitätshungrigen Nachkriegszeit nicht nur sein Gesicht verloren, – die Fotos belegen es auf erschreckende Weise –‚ es hatte in der Mitte der sechziger Jahre auch seine Seele verkauft an die Gesellschaft für Strahlenforschung, war zum Endlager für Atommüll geworden mit einhundertsechsundzwanzigtausend Fässern mit leicht- und mittelradioaktivem Müll. Der Entsorgung der Vergangenheit war – so zweifellos nicht erwartet – die Entsorgung der Zukunft gefolgt, «für eine Million Jahre mindestens.»

Scharfkantiger Alptraum

Ich hatte mich also doch nicht getäuscht: es geht in diesem Buch auch um ein Verbrechen, und es geht auch um die Verkehrung einer utopischen Erwartung in den dystopischen Schrecken, durativ, angsteinflössend. Und die Träume, die Märchenbilder, die vertrauten Liedzeilen, die den Text durchziehen, werden schliesslich von dem scharfkantigen Alptraum, von der atommüllschwangeren Realität überlagert, welche die schöne Brel-Adaptation der Buchmitte «mein land mein / asse / land» ins «Atomklo» Asse verwandelt und Heimat in Fremde verkehrt.

Ist das, die Entfremdung von dem, was einst ein Zuhause hiess, das letzte Wort? Mitnichten, hat uns die Autorin doch schon auf der ersten Seite ihres Buches  auch «einen ganz anderen Lebensentwurf“ versprochen, neben den vielen literarischen Reminiszenzen, die jenseits der apokalyptischen Gefahren an die kulturelle Heimat erinnern, seit je das wertvollste Reisegepäck der Emigranten.

Eine Idylle beschliesst das Buch, eine Idylle mit Internet am zweiten Wohnsitz in «la France Profonde», ein locus amoenus mit Mühle und Bach, das Apfelbäumchen Luthers mutiert zum Kirschbaum, der Hirt ist nicht fern, das Brot wird gebacken, Tofu hergestellt und die Exil-Robinsonade liefert das Rezept gleich mit wie auch die Anleitung  für das in Eigenarbeit erbaute Kompostklo, dem Asseklo selbstbewusst entgegengestellt. Ein Paradies mit obligatem Garten: «Am liebsten würde ich mich ganz zuwachsen lassen, von Erlen, Holunder, Weissdorn, Kiefern, Birken, Ginster». Die Schönheit jenseits der Schrecken, das Doppelgesicht der Welt.

Ermutigung zum Widerstand

Vor der da sichtbar werdenden Gefahr der Beruhigung, vielleicht sogar der Kulinarik bewahrt die Autorin sich und uns durch einen der meistzitierten Denksätze des letzten Jahrhunderts: «es gibt kein wahres Leben im falschen». Auch das Internet ist ja längst kontaminiert, die Fliehenden werden eingeholt, überall. Und auch wenn sich im ferngerückten Dorf, der Heimat von einst, «endlich von vielen Seiten her Widerstand [..]regt. Das tut gut. Ich verfolge die Entwicklung genau, natürlich online», ist die Aporie offensichtlich. Die letzte Frage, «Der Hunger nach Gerechtigkeit bleibt ungestillt. Was tun?», diese Frage bleibt unbeantwortet, – dem Erzähler-Ich, der Autorin, aber auch uns, den Lesern zur Lösung aufgegeben.

Trotz des leicht unhandlichen Formats ist dieses sprachschöne, virtuos den Wechsel der Töne auskostende Buch eine mehr als nur willkommene Wegzehrung auf dem unabsehbar langen Marsch aufs wahre Leben zu, zum Erinnern einladend, zum Nachdenken anregend, zum Weitergehen auffordernd und – last not least – zum Widerstehen ermutigend!