Dezember 2024. Die Bilanz von SP, Grünen und Gewerkschaften ist eindrücklich: Sie stoppten mit ihren Referenden gegen die BVG-Reform, die Mietgesetz-Revision und den Autobahnausbau den bürgerlichen Durchmarsch, gewannen mit ihren nur knapp gescheiterten Volksvorlagen für eine Prämienentlastung und gegen eine unsoziale Neufinanzierung des Gesundheitswesens den Zuspruch vieler Bürgerlicher und errangen mit der 13. AHV-Rente ihren wohl grössten Triumph in den letzten vierzig Jahre.
Zudem fielen bürgerliche Tabus: Unerwartet entschied sich das bürgerliche Parlament erstmals für eine aktive Industriepolitik und griff der einheimischen Stahlindustrie finanziell unter die Arme. Und es denkt inzwischen sogar laut darüber nach, strategisch wichtige Unternehmen wie die Rüstungsbetriebe Ruag zu verstaatlichen.
Politische Anomalie?
Was hier geschieht, erscheint für Schweizer Verhältnisse schon fast wie eine Anomalie. Unser Land steht politisch alles andere als links. Es verfügt vielmehr seit jeher über eine stabile strukturelle bürgerliche Mehrheit. Mehr als zwei Drittel der Wählerschaft identifizieren sich mit bürgerlicher Gesinnung. Das verdeutlichten auch die jüngsten Wahlen mit ihrem massiven Rechtsrutsch. Was also sind die Gründe für die Erfolgsserie von SP, Grüne und Gewerkschaften?
Korrekturen nach Wahlen
Eine Erklärung ist, dass das Volk nach Wahlen oft Korrekturen an der Urne vornimmt – besonders, wenn wie im Herbst 2023, vorab die rechte SVP zulegt: Nebst der linken Mobilisierung folgt dann in der Regel auch ein Gegensteuern aus der bürgerlichen Mitte.
Besonders deutlich zeigte sich dies etwa in den Jahren 2004 bis 2007 nach dem Erdrutschsieg der SVP und der Wahl von Christoph Blocher in den Bundesrat: Ausgerechnet in dieser Zeit setzte sich die Linke mit Umverteilungsprojekten häufiger durch als sonst, etwa mit der Vereinheitlichung der Kinderzulagen und der Einführung der Mutterschaftsversicherung. Ein ähnlicher Effekt dürfte auch in diesem Jahr eine Rolle gespielt haben.
Es ist die Kaufkraft!
Ein weiterer Grund war die Inflation. Plötzlich stiegen Lebenshaltungskosten und Mieten an, während Löhne und Renten stagnierten. Viele Menschen konnten sich weniger leisten. Und das traf vor allem die Mittelschicht mit durchschnittlichen Einkommen sowie die Rentnerinnen und Rentner. Das verunsichert. Denn nichts ist schlimmer in einem reichen Land wie der Schweiz als das Gespenst des sozialen Abstiegs.
Die bürgerliche Mehrheit hatte darauf keine Antwort – der gewerkschaftlich orientierte Flügel der SP jedoch schon: Er war es, der den Begriff «Kaufkraft» auf die politische Agenda setzte. Mit dem sperrigen, teutonischen, aber wirksamen Wort legte die Sozialdemokratie die Priorität darauf, was sie seit jeher über die Parteigrenzen hinweg glaubwürdig macht: den Kampf für soziale Gerechtigkeit und eine faire Verteilung des von der breiten Bevölkerung erarbeiteten Wohlstandes.
Die Urnengänge förderten zutage, dass viele Menschen den Eindruck haben, zu kurz zu kommen und Anspruch auf ein grösseres Stück Kuchen zu haben.
Löhne, Renten und Lebenshaltungskosten: Diese Themen trafen den Nerv des zu Ende gehenden Jahres und rückten die parteipolitische Gesinnung in den Hintergrund. Darum fanden die linken Anliegen bei der bürgerlichen Wählerschaft und insbesondere bei den einkommensschwachen SVP-Schichten mehr Gehör als üblich.
Weitverbreitete Unzufriedenheit
Entscheidend war aber mindestens so sehr ein anderes Phänomen: eine weit verbreitete Unzufriedenheit und eine schlechte Stimmung im Land. So förderten die Urnengänge über die Altersvorsorge und den Autobahnbau zutage, dass viele Menschen den Eindruck haben, zu kurz zu kommen, nicht wertgeschätzt zu werden und Anspruch auf ein grösseres Stück Kuchen zu haben.
Diese Frustration kommt nicht von ungefähr, sondern hat mit Ereignissen wie der Pandemie und der CS-Rettungsaktion zu tun. Beide Krisen offenbarten eindrücklich, dass die Schweiz über genügend Ressourcen verfügt, um innert Tagen riesige Milliardenbeträge zu beschaffen. Trotzdem wird die Politik seit Jahren von einer eigentlichen Obsession des Sparens beherrscht. Daher ist es kein Wunder, wenn viele Menschen nicht nachvollziehen können, weshalb sie Opfer hinnehmen und Verzicht üben sollen, wenn doch Geld im Überfluss vorhanden ist.
Neoliberalismus im Niedergang
Hinzu kommt, dass mit den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten, den geopolitischen Spannungen und der besorgniserregenden innenpolitischen Lage in den USA viele Gewissheiten und Narrative im bürgerlichen Lager erodieren. Das gilt vor allem für den Neoliberalismus, der die Politik seit 30 Jahren dominiert: Immer mehr entpuppt er sich als Schönwetter-Ideologie. Seine Leitsätze klingen zunehmend hohl und seine Strahlkraft verblasst.
Dass die Schweiz etwa in der Covid-Krise weder Impfstoff noch Masken herzustellen vermochte und wegen der Verletzlichkeit der globalen Lieferketten in Engpässe geriet, hat den Glauben an die Unfehlbarkeit des Marktes arg strapaziert. Der Widerwillen gegen das Sparen bei der sozialen Sicherheit und die Bereitschaft, zum Schutz der heimischen Produktion zu staatlichen Interventionen zu greifen, sind direkte Reaktionen auf das Versagen des Neoliberalismus.
Risse in der SVP
Dies ist nicht zuletzt für den Rechtsblock ein Problem. Zwar gelingt es der SVP mehr denn je, die Unzufriedenheit in der Bevölkerung auf die – notabene von der Wirtschaft getriebene – Zuwanderung zu projizieren und von wichtigeren Herausforderungen abzulenken. Doch kann dies nicht über die Risse zwischen Parteispitze und Basis hinwegtäuschen. Nicht nur stimmten viele SVP-Wählerinnen und ‑Wähler 2024 überraschend oft mit der Linken. Vielmehr realisieren viele in der SVP auch, dass mit Sparen und Staatsabbau kein Heimatschutz zu betreiben ist.
Darin belehrt wurde die Parteielite ausgerechnet von ihrem Hardliner Christian Imark. Er war es, der im Parlament gemeinsam mit SP und Grünen dem Stahlwerk Gerlafingen zu staatlicher Unterstützung verhalf und die SVP-Fraktion damit in Erklärungsnot brachte. Der Spagat zwischen der neoliberalen Parteispitze und dem Parteivolk, das weniger staatskritisch und empfänglich für Staatsinterventionen ist, dürfte schwieriger werden.
Abneigung gegen links
Trotzdem ist fraglich, ob sich die Linke all dies auch künftig zunutze machen kann. In unsicheren Zeiten neigen die Menschen erst recht dazu, der rechtspopulistischen Sündenbock-Politik zu folgen, wie sie die SVP und inzwischen auch die FDP zelebrieren. Erfolg haben die beiden Parteien damit ausgerechnet bei jenen Schichten mit Verlust- und Abstiegsängsten, die nicht Profiteure, sondern Opfer der bürgerlichen Steuer‑, Finanz‑, Sozial- und Wirtschaftspolitik sind.
Die Mittelschicht – also die grosse Mehrheit – spricht man vielmehr damit an, wie viel Geld am Monatsende im Portemonnaie noch übrigbleibt.
Dabei wären genau diese Schichten die grössten Nutzniesser linker Forderungen wie bezahlbare Mieten, Teuerungsausgleich, sichere Altersvorsorge, mehr Service Public und eine stärkere Besteuerung der hohen Einkommen und Vermögenden. Doch in ihrem Selbstbild begreifen sie sich so sehr als «bürgerlichen Mittelstand», dass sie der Politik von SP, Grünen und Gewerkschaften mit grundsätzlicher Abneigung und Misstrauen begegnen – dies zusätzlich befeuert durch konstruierte Wokeness- und Genderstern-Polemiken.
Was bleibt im Portemonnaie
Hier muss vor allem die Sozialdemokratie als stärkste Volkspartei innerhalb der Linken und als engste Verbündete der Arbeitnehmer-Organisationen künftig noch viel stärker ansetzen, will sie erfolgreich sein: bei der Mittelschicht in den Städten wie in den Agglomerationen und in den Randregionen. Das schafft sie allerdings nicht mit gesellschaftsliberalen oder aussen- und asylpolitischen Postulaten. So wichtig diese Themen für eine progressive Politik auch sind: Es handelt sich dabei zwar nicht immer, aber sehr oft um Minderheitsfragen. Die Mittelschicht – also die grosse Mehrheit – spricht man vielmehr damit an, wie viel Geld am Monatsende im Portemonnaie noch übrigbleibt.
Ringen um die Mittelschicht
Darum müssen die verteilungspolitischen Themen Steuern, Löhne, Wohnen, Renten und die öffentlichen Dienstleistungen die zentralen Referenzpunkte und die roten Linien einer linken, insbesondere einer sozialdemokratischen Politik sein. Alle anderen Politikfelder – von den EU-Verträgen bis zur ökologischen Nachhaltigkeit – sind daran zu messen, ob sie den finanziellen Erfordernissen der Mehrheit mit niedrigen und mittleren Einkommen gerecht und die Lasten zwischen den obersten 20 Prozent und der breiten Bevölkerung fair und angemessen verteilt werden. Das verlangt eine Politik, die sich konsequent an einer gerechteren Wohlstandsverteilung, einer dem Gemeinwohl dienenden Wirtschaftspolitik und einer sozialverträglichen Klimapolitik orientiert – und die damit auch jene Schichten anspricht, die niemals linke Parteien wählen würden.
Das wird letztlich darüber entscheiden, ob 2024 ein linkes Ausnahmejahr war oder ob die Chance besteht, der bürgerlichen Mehrheitspolitik künftig mehr sozialen und ökologischen Fortschritt abzuringen.