«Lieber ein friedliches Camp am Viktoriaplatz als brennende Autos»

von Anne-Careen Stoltze 1. November 2012

Wie man mit der langen Leine die Eskalation von Demonstrationen verhindern kann, sagt die Geografin Doris Wastl-Walter.

Das Image der Gegend zwischen Bahnhof und Bollwerk ist nicht besonders gut. Welchen Vorteil habe ich als Einwohnerin von diesem Stück Berner Urbanität?

Doris Wastl-Walter:

Sie können an dem Ort einen Einblick in verschiedene Milieus erhalten. Sie können am Fixerstübli vorbeigehen, den Flohmarkt auf der Schützenmatte besuchen oder ein Konzert in der Reitschule. Sie können Menschen und Lebenssituationen kennenlernen, die für Sie nicht alltäglich sind und zu denen Sie sonst keinen Zugang hätten. Sie können sich ein Bild von Wirklichkeiten machen. Leider diskutieren wir diese Verschiedenartigkeit heute oftmals als Bedrohung. Aber ich finde, Urbanität ist eine Qualität.

Das Gefühl haben manche Leute nachts in Bezug auf die Gegend zwischen Aarbergergasse und Reitschule gerade nicht. Dort sei es gefährlich, finden sie.

Ich kenne die Statistiken nicht. Aber ich bin nicht sicher, ob sich die Straftaten in Bern auf diese Orte konzentrieren. Oft werden ja Ängste in der öffentlichen Meinung geschürt, ohne dass es belegbare Fakten dafür gibt. Wir wissen, dass die meisten Übergriffe zuhause passieren. Aber die Diskussion läuft stereotyp in die Richtung, dass die Gefahr in einer dunklen Strasse, in einer Stadt lauert und das stimmt in vielen Fällen nicht. Es ist Aufgabe der Politik und der öffentlichen Hand, den Zugang zu öffentlichen Räumen für alle zu ermöglichen oder zu sichern.

An diesen Orten kommt es aber an Wochenenden häufig zu gewalttätigen Zwischenfällen.

Das kann schon sein, besonders wenn Alkohol im Spiel ist. Ich plädiere deshalb dafür, dass die öffentliche Hand es ermöglicht, dass man dort ohne Einschränkungen entlanglaufen kann. Vielleicht könnten Streetworker dort präsent sein oder mehr Polizeistreifen patroullieren. Das kann ich nicht beurteilen. Aber ich möchte nicht unkritisch hinnehmen, dass bestimmte Menschengruppen zu bestimmten Zeiten nicht an bestimmten Orten sein können.

«Bisher ist nicht erwiesen, dass beispielsweise Videoüberwachung Kriminalität verhindert.»

Doris Wastl-Walter, Geografin

Wie meinen Sie das?

Ich plädiere dafür, nicht zu viel an Urbanität zu opfern, um eine vermeintliche Sicherheit zu erreichen. Ich bin gegen zu viel Regulierungen – auch im Nachtleben. Wenn schon reguliert wird, dann nicht zu stark, denn damit verhindert man Vielfalt oder noch schlimmer: Man schickt Leute weg, vertreibt sie oder verschiebt sie, um den öffentlichen Raum sauber zu machen. Bisher ist nicht erwiesen, dass beispielsweise Videoüberwachung Kriminalität verhindert. Sie verlagert sich dann an einen anderen Ort.

Der öffentliche Raum wird auch politisch genutzt. Im vergangenen Jahr gab es die Occupy-Bewegung und das Anti-AKW-Camp vor dem BKW-Sitz auf dem Viktoriaplatz. Gemäss der neuen städtischen Campingverordnung sind solche Proteste heute illegal – wie beurteilen Sie das?

Der städtische Raum ist prädestiniert dafür, dass Menschen ihre Meinung ausdrücken – mit Protesten oder Demonstrationen. Im Zentrum oder auf Plätzen finden sie grosse Aufmerksamkeit. In Städten sollte es aus meiner Sicht möglich sein, seinen Protest auch auf ungewöhnliche Weise zu präsentieren. Wenn jemand mit einem Zeltlager sein Recht auf Meinungsäusserung wahrnehmen möchte, sollte eine Stadt das eher zulassen. Erst recht, wenn der Protest gewaltfrei abläuft. Auf diese Weise lassen sich extreme Aktionen womöglich verhindern.

 

Warum?

Wer protestiert, braucht die öffentliche Wahrnehmung. Wird die öffentliche Meinungsäusserung recht früh beschnitten und ihr kreativer Ausdruck eingegrenzt, dann heisst das in manchen Fällen, dass die Protestierenden einen Schritt weitergehen und sie ihren Unmut mit Gewalt artikulieren, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Also mir persönlich ist ein Camp am Victoriaplatz lieber als wenn in der Innenstadt randaliert wird und Autos brennen.

Ist das Campingverbot für Sie eine Einschränkung der politischen Teilhabe?

Für mich persönlich ja. Ich weiss, das ist ein schwieriges Thema. Der Boden gehört immer jemandem, einer Privatperson, einer Firma oder eben der Gemeinde. Den Boden zu besetzen, ist ein Eingriff in die persönlichen Rechte. Aber ich sehe es als eine Abwägung. So eine Art von Protest ist in der Regel friedlich und sehr lokal. Er beeinträchtigt nicht die ganze Stadt und die Menschen stehen für Gespräche zur Verfügung.

Wohin verlagert sich diese Protestbewegung nun?

Das ist eine gute Frage: Wo kann die Stadt einen Ort finden, wo diese Menschen ihre Meinung artikulieren können und das gewünschte mediale Interesse erhalten? Wenn ich ein Plakat in meiner Wohnung aufhänge, interessiert das niemanden. Die Frage ist bei Protesten: Wo lässt der Staat eine Grenzüberschreitung zu und wo ist Schluss? Bei mir ist Schluss, wenn Protest gewalttätig wird.

«In manchen Fällen sollte die Polizei die Grenzen nicht zu scharf ziehen, damit lässt sich eine brenzlige Situation entschärfen.»

Doris Wastl-Walter

Sie plädieren also für die sogenannte lange Leine?

Bei Demonstrationen findet immer ein Prozess des Abwägens zwischen Demonstranten und Polizei statt: Wie weit kann wer gehen? Ja, in manchen Fällen sollte die Polizei die Grenzen nicht zu scharf ziehen, damit lässt sich eine brenzlige Situation entschärfen.

Können Sie das erklären?

Dazu gibt es eine Abschlussarbeit an unserem Institut. Drei Absolventen haben den Dokumentarfilm «Wirf dein Wort und geh» gedreht. Darin haben wir die Demonstrationskultur in der Stadt Bern untersucht, haben die Polizeiarbeit beleuchtet und Interviews mit Polizisten geführt. Das Fazit: die Berner Polizei arbeitet sehr reflektiert. Sie überlegt sehr gut, wie sie vorgeht. Wir haben auch Beispiele gefilmt, wo die Demonstrierenden weiter gingen, als die Polizei erlaubt hatte.

Haben Sie ein Beispiel?

Das war eine Solidaritätsdemo für Ägypten im vergangenen Jahr. Dabei wollten die Demonstrierenden weiter gehen, als genehmigt worden war. Der Einsatzleiter hatte dann vor Ort entschieden: Das lassen wir jetzt zu. Gleichzeitig ist ein Teil der Polizeimannschaft zur Botschaft gegangen und hat sie gesichert.Die Polizei duldete Sprechchöre und auch das Verbrennen von Bildern in der Nähe der Botschaft – obwohl dies zuvor nicht erlaubt worden war. Das ist aus meiner Sicht ein kluges Beispiel, bei dem die Polizei abgewogen hat, ob sie gleich hart eingreifen soll oder ob sie einen Kompromiss findet. So wurde eine Eskalation verhindert, obschon es recht emotional zu und her ging.