«Lieber Change the System, als Symptombekämpfung im Kleinen»

von Noah Pilloud 15. September 2023

Darstellende Künste Mit der Veranstaltung «M2ACT × BURNING ISSUES» wollen drei Berner Kulturhäuser die drängenden Fragen im Kulturbetrieb angehen. Im Gespräch erzählt Ute Sengebusch vom Schlachthaus Theater, welche fünf Themen dabei im Zentrum stehen, und was es braucht, damit Inklusion und Diversität gelingen.

Journal B: Was versprechen Sie sich von der Veranstaltung «M2ACT x BURNING ISSUES»?

Ute Sengebusch: Ich verspreche mir Kontakte und Empowerment. Ich hoffe, dass es neue Verbindungen gibt, weitere Fäden im Netzwerk und dass wir für gemeinsame Themen einstehen können.
Persönlich erhoffe ich mir, dass das Bewusstsein für die Missstände und die häufig prekären Arbeitsbedingungen, unter denen wir arbeiten, grösser wird. Fürs Schlachthaustheater ist es ein wahnsinniger Gewinn, dass die drei Häuser Dampfzentrale, Bühnen Bern und Schlachthaus Theater gemeinsam mit dem Migros-Kulturprozent und Burning Issues an diesem Strang ziehen.

Was sind denn in den Berner Kulturbetrieben die «most burning issues», wo drückt der Schuh am meisten?

In der Vorbereitung haben wir fünf Felder definiert, die «brennen». Das sind zum einen transparente Lohnsysteme und angemessene Bezahlung für alle. Dann sehen wir die Notwendigkeit von Diversität und Inklusion in Entscheidungspositionen. Als weiteren wichtigen Punkt sehen wir das Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das betrifft auch Care-Arbeit und Betreuung von Kindern im Zusammenhang mit der künstlerischen Arbeit. Diese folgt häufig einer anderen Logik als klassischere Berufe. Da haben wir ein strukturelles Problem in der Schweiz.

Das waren drei von fünf Punkten, wie lauten die letzten beiden?

Das ist zum einen das Thema prekäre Arbeitsbedingungen, da gehört auch Altersarmut dazu. Und als fünfter Punkt selbstverständlich der Schutz vor Machtmissbrauch und sexualisierten Übergriffen. Also Safer Spaces zum Arbeiten.
Ich persönlich finde, diese fünf Punkte sind alle brennend, und zwar jeder auf seine eigene Weise. Wir als Häuser können diese mit der Szene und der Kulturpolitik zusammen mitgestalten. Es ist mir wichtig, zu sagen: Wir wollen, müssen und können von allen Seiten gemeinsam an einer Verbesserung arbeiten.

Sind denn Arbeitsbedingungen oder der fehlende Raum für Care-Arbeit Probleme, die alleine innerhalb der Häuser und der Szene gelöst werden können?

Selbstverständlich lässt sich das nicht auf rein institutioneller oder individueller Ebene lösen. Wir leben in einer Gesellschaft. Kinderbetreuung etwa ist in der Schweiz für viele sehr teuer. Ich glaube wir müssen gesamtgesellschaftlich weiterdenken und grösser denken. Lieber «Change the System», als im Kleinen Symptome zu bekämpfen.

Was schwebt Ihnen denn da vor?

Wie wäre es beispielsweise mit modularen Lohnsystemen? Also Lohnsysteme, bei denen ein Grundlohn definiert ist und sich andere Anteile nach der jeweiligen Situation richten. Wenn eine Person etwa Fürsorgeverantwortung für Kinder hat, wäre es vorstellbar, dass diese Person entweder einen höheren Lohn oder weniger Arbeitszeit hat.
Oder was ist mit einem Grundeinkommen? Das würde vielen Künstler*innen helfen, sich im Alter abzusichern. Bei Freischaffenden oder Künstler*innen mit häufig wechselnden Engagements ist die Rente oft nicht hoch genug. Damit landen sie notgedrungen im Altersprekariat. Dies, obschon sie gut ausgebildet sind und viel gearbeitet haben.

Wir begreifen uns als lernende Institution, die ständig dabei ist, zu schauen, wie wir uns weiterentwickeln können.

Um von den grossen gesellschaftlichen Veränderungen nochmals wegzukommen: Welche Möglichkeiten zur Veränderung sehen Sie im Kleinen, in den Häusern?

Im Schlachtaus Theater haben wir beispielsweise eine Co-Leitung. Maria Spanring und ich teilen uns die Leitungsposition hier im Haus. Das sind zwei Köpfe, die denken und auch zwei Menschen, auf die sich die Verantwortung verteilt. Das sorgt dafür, dass die Belastung weniger punktuell auf eine Person konzentriert ist. Was wir ebenfalls tun können, ist in den Betrieben besser auf die Arbeitszeiten und die festgelegten Pensen zu achten. Es ist natürlich nicht immer einfach, die Überstunden im Griff zu haben. Weitere Punkte sind die Betriebskultur, die Kommunikation, die Feedbackkultur sowie die Sensibilisierung. Auch in der freien Szene gibt es interessante Initiativen und Modelle.

Die da wären?

Die Gruppe «Ultra» hat zum Beispiel ein neues Probenmodell, bei dem sie nur an vier Tagen in der Woche arbeiten bei gleichbleibenden Prozenten. Ihr 100%-Pensum beinhaltet also nur vier Arbeitstage. Dadurch bleibt mehr Zeit übrig, dass sich die Dinge setzen können. Aber auch für die Care-Aufgaben und die eigene Gesundheit bleibt so mehr Zeit.

Welche Beispiele setzen Sie im Schlachthaus Theater bereits jetzt konkret um?

Wir begreifen uns als lernende Institution, die ständig dabei ist, zu schauen, wie wir uns verbessern und weiterentwickeln können. Dabei kommen wir auch immer wieder an unsere Grenzen. Wir haben ein bestimmtes Budget und bestimmte finanzielle Ressourcen.
Wir sind daran, an unserer internen Kommunikation und der Kommunikation mit den Künstler*innen zu arbeiten. Und wir sind daran, unser Programm so zu gestalten, dass brennende Themen vorkommen und sowohl strukturell als auch inhaltlich sichtbar werden.

Wir dürfen nicht dabei stehen bleiben, die Perspektiven rein als Inhalt zu betrachten.

Bei Bemühungen um mehr Diversität lauert ja oft die Gefahr von Tokenism. Also dass Einzelpersonen als Vertreter*innen einer bestimmten Gruppe ins Rampenlicht gestellt werden, um nach aussen Diversität zu signalisieren. Sehr oft fehlt die Perspektive dann jedoch in den Entscheidungspositionen. Wie gehen Sie im Schlachthaus Theater mit dieser Gefahr um?

Weil wir ein Koproduktions- und Gastspielhaus sind, setzen nicht wir alleine die Themen und Stücke. Das passiert im Austausch mit den Künstler*innen, die auf uns zukommen. Was ich bei uns im Programm sehe ist, dass viele Künstler*innen sehr nahe an den Themen dran sind, die sie künstlerisch verhandeln. Ich glaube wir können daran arbeiten, dass wir diese verschiedenen Perspektiven sowohl strukturell als auch inhaltlich miteinbeziehen. Für uns ist es dabei wesentlich, dass wir ein Gegenüber haben, mit dem wir sprechen können. Denn wir sind zwei weisse Frauen, und haben nun mal die Perspektive, die wir haben.
Ganz allgemein lässt sich sagen: Je diverser und inklusiver Entscheidungspositionen besetzt sind, desto breiter ist der Blick. Sonst reproduziert sich dieselbe Perspektive immer selbst.

Das stellt sich häufig als gar nicht so einfach heraus. Personen, die mitunter eine bestimmte Perspektive in eine Institution bringen sollen, sehen sich oft mit der Aufgabe konfrontiert, Bildungs- und Sensibilisierungsarbeit in der Institution zu leisten. Eine Aufgabe, die sie nicht als die ihre ansehen und für die sie auch nicht primär angestellt sind. Wie lässt sich das vermeiden?

Die diverse und inklusive Besetzung von Entscheidungs- und Machtpositionen ist enorm wichtig, um dadurch weitere Positionen anders besetzen zu können und damit die Perspektiven in die Betriebe zu hohlen. Dass es ermüdend ist, diese Sensibilisierungsarbeit tagtäglich zu leisten, verstehe ich. Die Lösung dazu habe ich auch nicht. Ich denke einfach, es ist wichtig diese Perspektiven zu haben und mit diesen Perspektiven auf die Inhalte zu schauen. Wir dürfen nicht dabei stehen bleiben, die Perspektiven rein als Inhalt zu betrachten.

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Nicht bei allen stossen diese Bemühungen auf Verständnis, einige üben gar Kritik daran. Wie gehen Sie mit damit um, dass ein Teil des Publikums und der Unterstützer*innen diese Bemühungen um mehr Diversität für überflüssig hält?

Ich würde zuerst zurückfragen, was daran denn überflüssig ist. Ich verstehe nicht, was die Bedrohung daran sein soll, diverser zu werden. Was ist schlimm daran, mehr Perspektiven miteinzubeziehen? Ich denke, einige Personen haben das Gefühl, es würde über nichts Anderes mehr gesprochen. Warum sie dieses Gefühl haben, weiss ich auch nicht. Aber ich glaube, es ist wichtig diese Themen in den Künsten stattfinden zu lassen. Denn es kann da auf eine ganz andere Art verhandelt werden als in Büchern oder Vorträgen. Wir kreieren Erlebnisse und können eben die unterschiedlichen Perspektiven mit einfliessen lassen. Was passiert beispielsweise, wenn ein kanonischer Stoff auf eine Disability-Perspektive trifft?

Nehmen die darstellenden Künste hierbei ein Vorreiterinnen-Rolle ein, weil im Entstehungsprozess automatisch mehrere Perspektiven involviert sind?

Probenprozesse sind per se schon viel Verhandlung im Ensemble. Es kann daher gut sein, dass die darstellenden Künste eine Vorreiterinnen-Rolle einnehmen. Das zeigt sich auch im schönen Untertitel von M2ACT x BURNING ISSUES: «Performing Arts & Action». Veränderung und Aktivismus ist doch was total Konstruktives. Lasst uns den Strang definieren, an dem wir zusammen ziehen!