«Les Misérables»: Stereotyper Zugang

von Esther Fischer-Homberger 21. Februar 2013

Der Klassiker «Les Misérables» in Musicalform von Tom Hooper mit Hugh Jackman, Russell Crowe und Anne Hathaway ist  weniger unterhaltend als beabsichtigt.

 

«Les Misérables», «Die Elenden» sind das wohl bekannteste Werk des französischen Nationaldichters Vitor Hugo (1802 – 1885), dessen Gebeine im Pantheon zu Paris ruhen. 1844 als «Les misères» begonnen, sind «Les misérables» 1862, auf der Höhe von des Dichters Ruhm herausgekommen, rund 1000 Seiten dick. Der Roman erzählt – auf dem Hintergrund der französischen Geschichte zwischen dem Ende von Napoleons Herrschaft (1815) und dem Jahr des Juniaufstands (1832) – die Geschichte des Jean Valjean und seiner Begegnung mit dem Elend der Armen in der rasch und unkontrolliert angewachsenen Grossstadt Paris.

Rund 50 Mal verfilmt

Es gehört zum Schicksal dicker Klassiker, dass sie mit Vorliebe in gekürzten Fassungen in Umlauf gebracht und gelesen werden. So hat es bisher auch gegen fünfzig Verfilmungen dieses Stoffes gegeben, zudem eine Version in Comic-Form, die indessen nicht vollendet wurde – und ein Musical. Dieses Musical, von Claude-Michel Schönberg (*1944) komponiert, wurde 1980 in Paris uraufgeführt und ab 1985 – für ein internationales, in Geschichte und Kultur Frankreichs weniger bewandertes Publikum umgearbeitet – in London und anderswo gezeigt. Es ist offenbar lange mit grossem Erfolg gespielt worden. Rund drei Stunden dauernd, bietet es Bildung in zügiger musikalischer Unterhaltungsform.

Darstellende singen selber

Nun hat Tom Hooper (*1972) dieses Musical in ähnlicher Länge auf die Leinwand gebracht. Es ist das erste Mal, dass er seine Darstellerinnen und Darsteller nicht nur sprechend, sondern auch singend sich ausdrücken lässt, vielfach live (was auf geniale Weise Kasper Holten in seinem Don Giovanni-Film «Juan» praktiziert hat), wodurch ihr Gesang unmittelbarer wirkt als wenn er im Playback unterlegt wird.

Hauptfiguren des Melodramas sind zwei Männer und zwei Frauen: Jean Valjean, sein Gegenspieler Javert und die geliebten weiblichen Gestalten Fantine und Cosette, Mutter und Kind. Valjean, Held und Heiliger, ist ein entlassener Sträfling, der als Nummer 24601 auf der Galeere dafür hatte büssen müssen, dass er ein Brot – notabene für ein hungerndes krankes Kind – gestohlen hatte. Javert, der buchstabentreue Diener des Gesetzes, stuft ihn als gefährlich ein und verfolgt ihn hart und hasserfüllt. Fantine ist vom untreuen Geliebten sitzengelassen worden und musste ihr Kindchen beim nichtswürdigen Wirtepaar Thénardier in Pflege geben – dieser Tochter, Cosette, wird sich Jean Valjean bedingungslos annehmen.

«Möglichst starke Gefühle auslösen»

Tom Hooper, der mit diversen preisgekrönten Fernsehproduktionen bekannt geworden ist, ist es gelungen, wie schon in «The King’s Speech» (UK 2010), mit dem er sich einen guten Namen gemacht hat, namhafte Schauspielerinnen und Schauspieler für sein Unternehmen zu gewinnen. Er hat beabsichtigt, auch die «Misérables» für ein grosses Publikum aufzubereiten. Vom Fernsehfilm herkommend, weiss er, wie das geht. The King’s Speech habe bei den Zuschauern in aller Welt starke Emotionen hervorgerufen, sagt er gemäss Presseunterlagen. «Deshalb sollte mein nächster Film möglichst noch stärkere Gefühle auslösen.»

Stereotyper Zugang

Man mag es einem Melodrama angemessen finden, dass es sein Publikum mit Stereotypen und Effekten bedient. Aber Hooper geht damit wenig differenziert um: die moralisch Unwürdigen unter seinen Armen sind durch wirres Haar und schlechte Zähne gekennzeichnet, den moralisch Intakten lässt er ihr für unsere Wahrnehmung unauffälliges Gebiss. Und nachdem die gute Fantine sich ihr schönes langes Haar brutal hat wegschneiden lassen, um die Kosten für ihre Cosette bezahlen zu können, trägt sie für den Rest des Films eine modische Kurzhaarfrisur. Das Zeichen «Schmutz» scheint in Form von schwärzlichen Spuren freimütig und unterschiedslos auf die Gesichter der Armen aufgetragen worden zu sein, bei Verruchten gemischt mit verwischter Schminke.

Alles in allem etwas langweilig

Die revolutionären Barrikaden wirken bühnenbildnerisch korrekt. Blau-grau-bräunlich eingefärbte Ansichten von engen Gassen lassen am Elend des Lebens daselbst keinen Zweifel und markieren die Historizität des Stoffes. Auf dem Fernsehschirm mögen solche Zeichen die Orientierung erleichtern, die Kinoleinwand füllen sie nicht. Und nichts lässt vermuten, dass der Filmer die gewählten Formen reflektierte – ausser Sacha Baron Cohen, der seine Rolle als verworfener Thénardier auf seine Weise ironisiert. Der Film ist nach vielen Regeln der Unterhaltungskunst hergestellt, und doch kann es einem dabei etwas langweilig sein.