Lehren aus meinem ersten Wahlkampf

von Chandru Somasundaram 9. Dezember 2020

Eine eindrückliche Frauenwahl und eine vergleichsweise hohe Stimmbeteiligung sind nur zwei der Aspekte des vergangenen Wahlwochenendes. Wichtige Lehren können auch aus persönlicher Perspektive gezogen werden.

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Der vorliegende Text wurde Journal B von Chandru Somasundarum, Stadtratskandidierender der SP aus Bümpliz/Bethlehem, zugestellt. Wir veröffentlichen diesen Erfahrungsbericht – einerseits politische Analyse und zudem persönliches Fazit über linken Wahlkampf – im Folgenden inhaltlich unverändert.

– Redaktion Journal B

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Am 29. November 2020 waren Wahlen in der Stadt Bern. Wir haben einen neuen Gemeinderat gewählt und über die zukünftige Zusammensetzung des Stadtrates bestimmt. Mit 40 motivierten Kandidierenden habe ich auf der SP-Liste für den Stadtrat kandidiert. Für die Wahl hat es nicht gereicht, das ist aber alles andere als schlimm, denn ich habe vieles gelernt über unsere Institutionen, die Demokratie und über die Menschen, die in dieser Stadt leben.

Verständnis des politischen Systems

«Was sind denn das alles für Namen, ich will doch dich wählen! Bist du denn sicher du stehst auf dieser Liste?» Mein Vater wendet sich mit leichter Empörung und etwas erstaunen an mich. Er hat gerade das Wahlmaterial geöffnet und sucht auf der Liste 11 nach meinem Namen. Aufgrund meines Nachnamens stehe ich in der alphabetischen Anordnung der Liste weit hinten. «Das sind meine Mitstreiterinnen und Mitstreiter, die wählen wir auch», sage ich und zeige auf meinen Namen. «Ach wirklich? Weshalb denn?» Es folgen noch weitere Fragen: «Über was entscheidet eigentlich der Stadtrat? Wieso kandidierst du denn nicht für den Gemeinderat?»

Der ein oder die andere mögen über diese Fragen lachen, darum mache hier sofort klar: Mein Vater ist einer der intelligentesten Männer, die ich kenne. Er kommt aus einem Land, indem das Wahlverfahren und das politische System komplett anders funktionieren als hier. Da hätte ich auch viele Fragen. Oder wissen Sie beispielsweise, wie das mit der Zweitstimme in Deutschland genau funktioniert? Eben.

Also erkläre ich. An anderen Tagen ruft er mich aus dem nichts an, fragt nach Details und stellt neue Fragen. Später erfahre ich, dass er Wahlkampf betreibt und seinen Freunden, die selbst so gut wie nie wählen und darum dieselben Fragen haben wie er, das System erklärt. So will er sie überzeugen ihre Stimme mir und damit der SP zu geben.

Der schwierige Ausbruch aus der Bubble

Da die Covid-19 Pandemie den Strassenwahlkampf massiv erschwert, betreibe ich Wahlkampf auf Social Media, wobei es nicht ganz einfach ist, Menschen ausserhalb der eigenen Bubble zu erreichen. So fällt der Entscheid, vor allem in meinem Umfeld Wahlkampf zu betreiben.

Ich stamme aus einer Arbeiter*innenfamilie und wohne in einem Quartier mit einem relativ hohen Anteil an Menschen mit Einwanderungserfahrung. Diese Menschen versuche ich mit meinen Inhalten zu erreichen. Die Reaktionen waren durchs Band weg positiv: «Klar wähle ich dich!» Doch relativ häufig folgte noch ein «Also für was genau?», oder: «und wie kann ich dich wählen?» Diese Fragen erstaunten mich nicht. Auch bei uns in der Familie wählten und stimmten wir lange Zeit nicht. Auch die klassischen Küchentischdiskussionen über Politik gab es bei uns nicht, wir hatten andere Diskussionsthemen, öfters auf das Ausland fokussiert. Obwohl ich also diese Fragen von zuhause kannte, gaben sie mir zu denken. Denn sobald ich mich mit den potentiellen Wähler*innen hinsetzte und das System erklärte, zeigten sie grosses Interesse. Am Ende hatte ich eine Stimme gewonnen und die Stadt Bern eine*n neue Wähler*in.

Grosses Potential bei der Wahlbeteiligung

Die Wahlbeteiligung lag am 29. November bei 54%, im Vergleich zu früheren Wahlen ist das kein schlechtes Resultat, aber es besteht noch grosses Potential nach oben. Die Forschung macht viele Gründe für die in der Schweiz herrschende tiefe Wahlbeteiligung geltend. Da ist zum einen die späte Einführung des Frauenstimmrechts, die häufige Kadenz in der die Stimmbevölkerung an die Urnen gerufen wird (Stichwort «partizipatorische Ermüdung») oder zum anderen ein Desinteresse am politischen Geschehen.

Es gibt ein Forschungsergebnis, an dem es sich lohnt, als Partei weiterzudenken. Nämlich der schwache Organisationsgrad der Gewerkschaften als Grund der tiefen Wahlbeteiligung. Die Zahl der Mitgliedschaften in den Gewerkschaften geht seit Jahren zurück. Dabei waren und sind es sie, die ihre Mitglieder zum Abstimmen und Wählen mobilisieren können. «Sie wirken als Schulen der Demokratie», steht in einer Ausgabe der «Sociology in Switzerland». Die Mitglieder lernen, die Rolle als Vereinsmitglied auf die Rolle als Staatsbürger*in zu übertragen. Verstehen wir ein System besser, steigt auch unsere Motivation, uns daran zu beteiligen, es scheint dann greifbarer. So lautet auch meine Lehre aus den Kontakten mit den Menschen in dieser Stadt. Die Schulen der Demokratie müssen wir wiederbeleben und vor allen Dingen inklusiver gestalten, um auch jene Menschen zu erreichen, die von den vielen Fragen abgeschreckt sind, die sie an das Schweizerische Politiksystem haben.

Wie erreichen wir die Menschen?

Eine Mitgliedschaft in einer Organisation scheint heute jedoch unpopulär. Oft scheitert es an den geringen zeitlichen Ressourcen unserer hochproduktiven Gesellschaft, Mitglied in einer Organisation zu werden. Es liegt somit auf der Hand, dass wir politisch Engagierte, versuchen müssen, auch jene Leute zu erreichen, die nur auf den ersten Blick wenig oder nichts mit Politik am Hut haben. Wenn wir schon ein politisches Amt anstreben, dann dürfen potentielle Wähler*innen auch erwarten, dass wir uns die Zeit nehmen, das politische Verfahren zu erklären. Meine Erfahrungen zeigten, dass es oft Grundsatzfragen sind, die es zu klären gilt: Was sind die Kompetenzen eines Stadtrates, wie funktioniert Panaschieren oder welcher Zettel kommt in welches Couvert? Wenn es unser Ziel, ist mehr Menschen zu erreichen und die Wahlbeteiligung zu erhöhen, müssen wir uns diese Zeit nehmen.

Ein Vorzeigebeispiel, wie gute Mobilisation funktioniert, haben wir am Wahlsonntag alle miterlebt. Noch nie wurden so viele Frauen in den Berner Stadtrat gewählt. Das ist eine Meisterleistung des feministischen Wahlkampfes. In den Medien lasen wir schon vom Ruf nach der Männerquote. Das ist Unsinn, schon nur weil patriarchale Strukturen aufgrund einer Wahl nicht einfach verschwinden. Zudem ist das Resultat der Stadtratswahlen ein deutliches Zeichen, dass die Stadt Bern endlich feministische Politik umsetzen muss. Es gibt noch einen anderen lehrreichen Punkt, den ich hier festhalten möchte: Die Frauen haben ihre Forderungen und Botschaften schlicht besser unter die Bevölkerung gebracht. Mit Organisationen wie «Helvetia ruft» und einer aktiv geförderten Vernetzung konnte die Frauenquote nach jahrelanger Vorarbeit selbst im bürgerlichen Lager erhöht werden.

Vernetzung mit Communities

Es geht nicht darum, mehr Männer zu mobilisieren oder weniger Frauen zu wählen, im Gegenteil. Vielmehr müssen wir es als Kandidierende schaffen, zusammen mit unseren Parteien weitere gesellschaftliche Gruppen zu erreichen, die im Kapitalismus benachteiligt werden. Konkret müssen wir Arbeiter*innen (gerade auch in prekären Verhältnissen), eingebürgerte Schweizer*innen, Schwarze Schweizer*innen und Schweizer*innen of Color erreichen. Sicherlich geschieht dies zu einem guten Teil mit unseren Forderungen nach Inklusion und echter sozialer Gerechtigkeit.

Was aber, wenn potentielle Wähler*innen mit unseren Forderungen einverstanden sind, aber daran scheitern uns zu wählen? In dieser Sache sollte die SP vorangehen, um sich mit migrantischen und anderen linken Organisationen sowie den Gewerkschaften zu vernetzen, um eine breite kostenlose Bildungsarbeit auf die Beine zu stellen. In Zusammenarbeit mit den vielen Communities und Organisationen, die beispielsweise im Bereich von eingewanderten Schweizer*innen tätig sind, erreichen wir diese Menschen und können auf ihre Fragen und Gedanken zur politischen Beteiligung eingehen. Als Sozialdemokrat*innen stehen wir in dieser Aufgabe sogar in der Pflicht, da wir den Anspruch hegen, diese Leute in den politischen Institutionen zu vertreten.

Die vielen Gespräche und Diskussionen auf der Strasse haben mir gezeigt, dass viele Menschen politisch hochinteressiert sind, aber vor  dem Wahlprozess zurückschrecken. Sobald ich mir die Zeit genommen habe, mich den Fragen der Menschen auf der Strasse zu stellen, erfuhr ich Dank oder wurde mit Mund-zu-Mund-Propaganda belohnt. Für den nächsten Wahlkampf habe ich schon ein paar Ideen, wie ich noch mehr Menschen zum Wählen motivieren könnte. Oder wie mein Vater am Wahlsonntag zu mir meinte: «Ich habe ein paar Einfälle, wie wir für das nächste Mal noch mehr Panaschierstimmen generieren können.»