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von Fredi Lerch 27. Dezember 2021

Zum 50-Jahr-Jubiläum seines freien Schriftstellertums hat der im Liebefeld geborene Markus Michel den Roman «Die im Gletscher singen» geschrieben. Ein literarisch reifes Werk über einen aus der Welt gefallenen Hausburschen eines noblen Hotels.

Neunundvierzig Jahre lang hat Röbu als Hausbursche des Hotels Palace «Ledis» und «Tschentelmäns» bedient, die hier «den wundervollen Blick auf den Gletscher und die umliegenden stolzen Gipfel» geniessen wollten. Ob das Hotel im Wallis oder im Bernbiet steht, bleibt in Markus Michels neuem Roman «Die im Gletscher singen» unbestimmt. Für das Wallis spricht, dass man im Dorf auf den Bischof und den Staatsrat hört und eine Illustration im Buch das Grand Hotel Glacier du Rhône in Gletsch zu zeigen scheint; für das Berner Oberland sprechen andererseits die eingestreuten Dialektwörter – von Glünggi über Chrousimousi, Bettmümpfeli und Göppel bis gottverdeckel, füdleblutt, Büppi und Grind. In diesen neunundvierzig Jahren gab es Zeiten, in denen man Missliebiges mit «Moskau einfach» quittierte und mit dem Wort «Gurkensalat» ein Wortspiel machen konnte.

Aber jetzt kommen die «Herrschaften» nicht mehr. Röbu liegt in seiner Dachkammer auf dem Bett, hält das Fenster «einen Spaltbreit» offen für den dreibeinigen Moudi, der ein Buch lang nicht kommt, und döst auf dem rotweiss karierten Kissen kreuz und quer durch seine Biografie, bevor er sich das nächste Mal fragt: Hat es nicht geklingelt?

Der Herr Direktor und das Dorf

Nein, es klingelt nicht mehr. Das Hotel steht leer, und wer weiss, warum Röbu noch hier ist, um dem «Herrn Direktor Linder» nachzuträumen, diesem ehemaligen Seifensieder und Kerzenzieher, dessen Sprachfehler ihn zum Beispiel sagen lässt: «Wir haben uns mit einer Flasse Sampagner und feinster Sokolade in aller Form bei ihr entsuldigt.» Ja, dieser Hotelbesitzer Linder: Kauft den einheimischen Bauern die Geröllhalden beim Gletscher für ein Trinkgeld ab, privatisiert so den Zugang zur Eisgrotte und macht diese zur eintrittspflichtigen touristischen Attraktion für die noblen «Touris» (Röbu spielt darin jahrelang den fotogenen Eisbären). Und bis die Bauern mit ihrer Berggenossenschaft gegen die Privatisierung des Gletschers vor Gericht ziehen, sitzt Linder längst für die richtige Partei im Grossen Rat. Entsprechend gibt der Richter dem Direktor recht, obschon eigentlich klar ist, «dass der amtlich zur Kultur unfähige Gletscher dem Staat gehöre».

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Immer wieder erinnert sich Röbu auch an Catherine, die Tochter des Weinbauers, in die er vor einem halben Jahrhundert, ein Welschlandjahr lang, unglücklich verliebt war. Und natürlich begegnet ihm in seinen Erinnerungen ab und zu die scharfzüngige Lisa, Küchenmagd im Hotel Palace, die mehr als einmal Zeichen gemacht hat, dass sie Röbu mochte, ohne dass er darauf hätte reagieren können. Dann gibt es zum Beispiel den alten Egger, der sich als grobschlächtiger Bauersmann dauernd am Bauch kratzt, Rieder seine Geröllhalde beim Gletscher für hundert Franken überlässt und später auch seine Tochter Annegret, die – von Rieder schwanger – im Kindsbett stirbt. Daneben wird klar, dass Egger in seinem Schuppen malt, und zwar derart, dass der Pfarrer, der ihn dabei überrascht, begeistert ausruft: «Unglaublich! Einfach unglaublich! So schöne Bilder!» Einen Tag nach Annegrets Beerdigung brennt Eggers Schuppen samt allen Bildern nieder, und der Bauer habe seither «nie mehr einen Pinsel in die Hand genommen».

Oder Heiri, der kleine Bursche mit den eingefallenen Wangen, der immer ein wenig daneben ist, weil er halt «als kleiner Bub vom Heuboden herunter auf den Kopf gefallen» sei. Bei einem Ausflug der Dörfler sieht Heiri am Bahnhof einen jungen Appenzellerhund auf dem Geleise in der Sonne liegen. Er versucht, ihn zu retten, der Hund rennt davon, Heiri schafft’s nicht. Oder dann Röbus Bruder Kari, der sich an der Besetzung des Geländes für den neuen Waffenplatz beteiligt und dafür bei Gelegenheit von der Polizei «niedergeknüppelt» und ins Gefängnis gesteckt wird, was der dösende Röbu damit kommentiert, der Kari habe halt «schon immer mit dem Kopf durch die Wand gewollt».

Literatur ist mehr als Sozialkritik

All dies und viel mehr erzählt Markus Michel in seinem Roman, der jedoch nicht in erster Linie wegen der Episoden lesenswert ist, sondern weil Michel auf eindrückliche Weise zeigt, was Literatur vermag. Was ein weiteres klischiertes Stück Sozialkritik mit grellem Oben-Unten und einem Schuss gebildete Stadt-ungebildetes Land hätte werden können, macht Michel in 59 kurzen Kapiteln zu einem in Zeit und Raum ausfransenden Fragment, das nicht auf das Sozialkritische, sondern das dahinterliegende Existentielle zielt.

Immer wieder ersetzt das flächig Ausfransende die Linearität des Erzählflusses. Struktur geben dann leitmotivisch auftauchende sprachliche Wendungen (zum Beispiel Röbus Hausburschen-Refrain «Exgüsee, äxgüsi»). Es gibt Passagen, die durch untereinandergestellte Kurzaussagen ins Lyrische schillern. Gewisse Episoden sind aus der Perspektive des allwissenden Erzählers, andere als innerer Monolog Röbus erzählt. Immer wieder gibt es Sätze, die stolpern, im Andeutenden stecken bleiben, drumherum reden, abbrechen. Manchmal scheinen solche Passagen auf die Konfliktunfähigkeit, der in lebenslangen Abhängigkeitsverhältnissen lebenden, zum Schweigen gebrachten Landbevölkerung zu verweisen; manchmal auf Röbus Scheu, es gegen Ende seines Lebens noch einmal so genau wissen zu wollen, dass es wehtut; manchmal steht das Zerbröselnde eher für die Vergänglichkeit, die irgendeinmal auch biografisch Prägendstes ins Vergessen absinken lässt.

Aber warum kann einen dieser Roman berühren? Darum: Michel lässt Röbu seine Geschichte so erzählen, dass die Fragmente seiner bereits untergegangenen Welt unverletzt erhalten bleiben – dass er sich auch weiterhin am Fenster seiner aus der Welt gefallenen Dachkammer sagen kann: «So schön. Cheibe schön», wenn die Sonne über dem Gletscher aufgeht.

*

Nachsatz: Offen bleibt, worauf der Romantitel «Die im Gletscher singen» anspielt. Wer weiss, vielleicht auf die Sage «Die zwei armen Seelen im langen Gletscher» aus dem Lötschental. Ein Jäger begegnet darin zwei Frauen: «Die eine, im Gletscher eingefroren bis an den Hals, sang, die andere, nur eingefroren bis an die grosse Zehe, weinte. Darüber sehr verwundert, fragte der Jäger die, die bis an den Hals eingefroren war, warum sie denn singe, während jene weine, die noch kaum angefroren sei. Da antwortete sie ihm: ‘Ich singe, weil ich bald erlöst bin; jene weint, weil ihr Leiden eben erst beginnt.‘»