Ein in die Jahre gekommener Wohnblock an der Muhlernstrasse in Köniz. Der Weg zur Nummer 67 ist mit zerbrochenen Betonplatten gelegt. Die Tür zum Treppenhaus steht offen. Es riecht nach den Essensdünsten vom Vorabend, nach Keller und altem Holz. Die einst geweissten Wände sind längst schmutziggrau geworden, durch die ungeputzten Fensterscheiben dringt das trübe Licht des Regentages hinein. Einzig die blauen Wohnungstüren bringen Farbe in den Flur. Es gibt keine Klingelschilder. Hinter den Türen sind Dreizimmerwohnungen von rund 60 Quadratmetern Grösse, die sich acht bis zehn Menschen teilen. Es sind Familienwohnungen aus den 1950er Jahren, mit kleinen Zimmern, in denen heute kaum eine Schweizer Familie wohnen will. Hier leben Menschen, die die meiste Zeit des Tages mit Warten verbringen. Warten auf einen Entscheid, auf die Ausschaffung, darauf warten, ihre Geschichte erzählen zu können.
Verschollen in einem syrischen Gefängnis
In einer der Wohnungen, ganz oben, unterm Dach lebt Faruk Seida*. Der 25-Jährige kam vor fast zwei Jahren aus Syrien und wartet noch immer auf einen Termin zur Anhörung beim Bundesamt für Migration BfM. Seine wochenlange Flucht bezeichnet er als «Reise». Er kehrte dem syrischen Regime den Rücken. Als Mitglied der kurdischen Minderheit wurden er und seine Familie benachteiligt. Sein Bruder ist seit einiger Zeit in einem Gefängnis in Damaskus verschollen. «Wir wissen nicht, wie es ihm geht oder ob er noch lebt», sagt Seida und schweigt. Sein Schweigen macht betroffen und sprachlos. Auch Seida fehlen die Worte, um weiter darüber zu sprechen. Aber man spürt, dass auch er inhaftiert sein würde, wäre er nicht geflohen.
«Ich bin immer der Ausländer – auch in Syrien.»
Faruk Seida*, Flüchtling aus Syrien
Seida formuliert es fast verharmlosend: «Wir dürfen unsere Meinung nicht sagen». Zudem wurde er gegenüber der arabischen Mehrheit benachteiligt. «Sie haben in meinen Pass geschrieben, ich sei Araber, aber das stimmt nicht. Ich bin am Schluss immer der Ausländer – hier, aber auch in Syrien», sagt er. Seine Eltern sind in Syrien geblieben und versuchen in dem politischen Konflikt nicht aufzufallen, sich so neutral als möglich zu verhalten.
Heimweh hat er nicht, sagt Seida. «Nur…», er sucht nach dem richtigen Wort und lächelt, als ihm «Sehnsucht» einfällt. Sehnsucht nach den Verwandten. Und er schiebt schnell nach: «Mir geht es gut.» Nur das Warten, das zehrt an den Nerven. «Ich kann alles arbeiten, aber ich darf nicht, das ist ein Problem», bringt er es auf den Punkt.
Erleichterung und 66,50 Franken bei der Ankunft
«Die Wartezeiten zermürben die Leute», sagt Zentrumsleiterin Ursula Schär in ihrem Büro, das in einer der Wohnungen untergebracht ist. Die Migrationsfachfrau hat in den vergangenen 13 Jahren viele Klientinnen und Klienten betreut und weiss um ihre Schicksale. Und dass das Warten schlimm sein kann. Die Flüchtlinge, die in Köniz stranden, haben oft eine monatelange Odyssee hinter sich. Sie stammen aus Afghanistan, Pakistan, Eritrea, Syrien Nepal, Georgien und vom Balkan. Vom Erstaufnahmezentrum an der Grenze kommen sie direkt in eines der Durchgangszentren wie in der Muhlernstrasse. Hier finden sie eine sichere Unterkunft – und Erleichterung. «Die ersten Tage sind für unsere Klienten ein reines Ankommen», sagt Schär.
Für die Neuankömmlinge gibt es Bettwäsche, Handtücher, Geschirr und Geld. Das übliche Sozialgeld beträgt 66,50 Franken pro Woche. Einige ihrer Klienten stammen aus Kriegsgebieten, manche sind traumatisiert und kommen hier erstmals zur Ruhe. Doch die Hoffnung der ersten Zeit verfliegt spätestens nach drei Monaten Warten. Nach drei Monaten sind sie in ihrem neuen Dasein eingerichtet, haben Regeln und Kultur kennengelernt und Gewohnheiten entwickelt. «Wenn dann nichts passiert, kommen viele in ein Frustloch», weiss Schär. Gerade hier ist es besonders wichtig, dass Schär sie begleitet. Und «Begleitung» kann in manchen Fällen auch heissen, dass die Leiterin ihre Klienten ermahnen muss, nicht zu spät in die Sprachschule zu gehen.
«Die ersten Tage sind für unsere Klienten ein reines Ankommen, nach drei Monaten Warten kommen viele in ein Frustloch.»
Ursula Schär, Leiterin Durchgangszentrum Köniz
Etwas leichter haben es Flüchtlingsfamilien. «Ihre Kinder werden so schnell wie möglich eingeschult, das gibt auch den Eltern einen Halt und eine Tagesstruktur», sagt Schär. Die Kinder lernten rasch Deutsch und die Eltern können über die Schule Kontakte mit anderen Vätern und Müttern knüpfen – die Kinder quasi als Brücke ins fremde Land. «Und für die Eltern ist es ein schönes Gefühl, dass ihre Kinder Bildung erhalten.»
Vier Jahre Warten auf den Entscheid
Theoretisch könnten die Asylsuchenden nach drei Monaten mit ihrem N-Ausweis arbeiten. Nur, wer gibt jemandem Arbeit, von dem er nicht weiss, ob und wie lange er oder sie noch in der Schweiz bleibt? Für eine möglicherweise kurze Anstellung lohnt sich das aufwändige Arbeitsbewilligungsverfahren und die Einarbeitung nicht und die wenigsten Flüchtlinge können ihren Berufsabschluss vorweisen. Bleibt also das Warten. Natürlich bekommen die Asylsuchenden einen Deutschkurs finanziert. Doch der geht nur ein paar Stunden und endet nach einigen Wochen. Weitere Kurse müssten die Asylsuchenden selbst bezahlen – wie geht das, ohne ein Einkommen? «Sie können sich mit unserem Workfare-Programm ein Taschengeld dazu verdienen.» Das sind aktuell im neuen Domizil des Durchgangszentrum Zügelarbeiten, Putzen oder Renovieren. Auch vermittelt die Flüchtlingshilfe Asylsuchende ans Team Sauber von Bernmobil, bei dem sie Abfall in Trams und Bussen einsammeln und die Haltestellen sauber halten.
«Wir haben viele gesunde, kräftige Männer, die Tag für Tag einfach nur warten, da geht viel Potenzial verloren.»
Ursula Schär, Leiterin Durchgangszentrum Köniz
«Wir haben viele gesunde, kräftige Männer, Studierte ebenso wie Handwerker, die Tag für Tag einfach nur warten, da geht viel Potenzial verloren. Den Menschen fehlt eine Aufgabe und Anerkennung – sie möchten gerne etwas beitragen, etwas leisten», erklärt Schär.
Zumindest ein Teil der Revision des Asylgesetzes ist deshalb für Ursula Schär kein Schreckgespenst: die beschleunigten Asylverfahren. Was die Revision in der Praxis weiter bringen wird, weiss Schär noch nicht, weil es noch dauert, bis die Revision umgesetzt wird. Sie sagt: «Ich habe mich in meiner Position nicht zu fest in die politische Diskussion eingelassen, aber schnellere Verfahren wären für viele Asylsuchende ein Segen, dann wissen sie, woran sie sind.» Man kann es sich kaum vorstellen, aber einige ihrer Klienten warteten bis zu vier Jahre, bis sie überhaupt zu ihrer Anhörung eingeladen werden. «Das ist verlorene Zeit», betont Schär. Vier Jahre in denen ein Leben still steht.
Gleichzeitig gebe es andere Beispiele, wie kürzlich das einer älteren Frau. «Sie war erst knapp drei Monate bei uns und wurde zur Anhörung bestellt, obwohl bei ihr abzusehen war, dass sie wohl nie arbeiten und sich nur schlecht integrieren wird.» Für Schär unverständlich, weil bei dieser Klientin keine Dringlichkeit bestand. Anders als bei jungen Menschen, die unbedingt arbeiten wollen und eine Perspektive brauchen.
Im Durchschnitt warten Schärs Klientinnen und Klienten etwa 1,5 Jahre auf einen Termin beim BfM. So geht es auch Seida. Um sich zu beschäftigen, lernt er Deutsch. «Ich habe einen Abschluss bis Level A2», sagt er. Aber er spricht viel besser als sein Abschluss ihm bescheinigt. «Ich habe viele Freunde gefunden, am liebsten will ich mit jenen zusammen sein, mit denen ich Deutsch reden kann. Dann lerne ich weiter.» Seida ist fest entschlossen, in der Schweiz Fuss zu fassen und zu bleiben. Momentan freut er sich darauf, bald als Küchenhilfe zu arbeiten – bei einem so genannten «kurzfristigen Erwerbseinsatz». Seida wirkt fast schon euphorisch, wenn er von seiner künftigen Tätigkeit spricht. «Er hat gerade ein Hoch», relativiert Schär etwas, «sobald der Einsatz vorbei ist, kann es wieder abwärts gehen. Ich habe diese Hochs und Tiefs oft beobachtet.» Leider soll die Möglichkeit solcher kurzfristiger Erwerbseinsätze für die Asylsuchenden nach den Plänen des zuständigen kantonalen Migrationsdienst ab nächstem Jahr wegfallen.
«Ich kann alles arbeiten, aber ich darf nicht, das ist ein Problem.»
Faruk Seida*, Flüchtling aus Syrien
Die kurzfristigen Beschäftigungen, die vorübergehend Sinn stiften, sind nur ein Tropfen auf den heissen Stein – es fehlt eine Perspektive, die Aussicht auf eine Zukunft. Trotzdem: Seida sagt, «das ist besser als nix.» Lieber würde er natürlich in seinem Beruf arbeiten. Dafür will eine Vorlehre machen und seinen syrischen Abschluss anerkennen lassen. Er ist Maurer und hat zudem einen Abschluss, den er nicht übersetzen kann – «etwas mit Landmaschinen». Dokumente, die das belegen, kann Seida nicht vorlegen. «Das ist bei fast allen Klienten so, und wir wissen nicht, ob das jeweils stimmt», sagt Schär. Doch es sei nicht die Aufgabe der Flüchtlingshilfe das nachzuprüfen, das müssten die Behörden tun. Auch ob die persönlichen Geschichten der Asylsuchenden stimmten, wisse man nie. «Manchmal spüre ich es oder es zeigt sich bei gemeinschaftlichen Arbeiten im Zentrum, ob jemand wirklich so handwerklich geschickt ist, wie er behauptet hat.»
Vom Traum und der realen Schweiz
An der Schweiz liebt Seida besonders die Berge und den Winter, «wenn es richtig kalt ist». Er fährt wenn möglich mit der Bahn, um das Land kennenzulernen. Er schaut sich Städte wie Thun oder Lugano an, auch um dort Freunde zu besuchen. «Die Schweiz war mein Traum», sagt Seida, «auch wenn der Traum manchmal nicht mit der Realität zusammenpasst.» Wegen den Regeln: «Bei uns kann ich bei jedem Termin sagen: Inschallah, So Gott will. Aber wenn ich in der Schweiz zu spät komme, dann habe ich ein Problem.»
«Pünktlichkeit und andere Schweizer Gepflogenheiten lernen die Neuankömmlinge bei uns», erklärt Schär. Auf ihren täglichen Rundgängen durchs Haus kontrolliert sie, ob die Hausregeln eingehalten werden oder erinnert etwa daran, dass der Abfall hinaus muss und dass man in den Sechsbettzimmern regelmässig lüften sollte. Die Rolle der Hausmutter hat Ursula Schär dennoch nicht. Eher die der Respektsperson. Auch wenn sie die meisten Lebensgeschichten vor Augen hat, wahrt sie eine professionelle Distanz. «Das muss ich schon für mich selbst, aber auch für die Klienten», sagt sie. Die persönlichen Schicksale dürfe sie nicht mit nach Hause nehmen, es könnte zu belastend sein, und dann könne sie ihre Arbeit nicht mehr gut machen.
«Ich habe einige Ausschaffungen miterlebt. Da muss ich meine Gefühle abstellen.»
Ursula Schär, Leiterin Durchgangszentrum Köniz
Aber den Umgang mit dem Elend ihrer Klienten musste Ursula Schär lernen. Anfangs habe sie sich nicht immer abgrenzen können. «Ich habe einige Ausschaffungen miterlebt. Besonders wenn Familien ausgewiesen werden, kann das sehr emotional ablaufen», erinnert sie sich. «Da muss ich meine Gefühle abstellen.» Dies empfehle sie auch den Zivildienstleistenden, die im Durchgangszentrum arbeiteten. Wenn man sich zu sehr auf die persönlichen Schicksale einlasse, laufe man Gefahr ausgenutzt zu werden. Mittlerweile nehmen sie Ausschaffungen nicht mehr so mit wie früher. Auch weil sie beobachtet hat, dass sie den Betroffenen manchmal wieder begegnet. «Sie haben ihre Wege, wieder in die Schweiz zu gelangen», sagt Schär. Und sie betont: «Ich verurteile die Leute nicht, ich versuche nur, objektiv zu sein.»
Irgendwann möchte sich Seida gerne verlieben, heiraten und eine Familie gründen. «Aber in der unsicheren Situation lieber nicht», sagt er. Und auch wenn sich sein Ankommen hier schwieriger gestaltet als gedacht: «Ich würde gerne bleiben. Wenn ich darf.»
*Name geändert