L’âme du lieu

von Christoph Reichenau 18. Januar 2024

Kunstszene Unscheinbar steht die Nummer 20 in der Berner Postgasse. Seit etwa 90 Jahren redet man von ihr als «Künstlerhaus». Jetzt widmet ihr Iris Gerber Ritter ein Buch.

Nach dem 1976 erschienenen Katalog «Tatort Bern» von Urs Dickerhof und Bernhard Giger, nach Fredi Lerchs gelb-roten Bänden zum Projekt Bern NONkONFORM, nach Tobias Kästlis Geschichte der Buchhandlung Münstergasse, nach dem Plakateband zum 75. Geburtstag von Claude Kuhn, nach dem in jeder Beziehung üppigen Buch «Bern 70» (herausgegeben von Gabriel Flückiger, Michael Krethlow und Konrad Tobler), nach Kurt Martis «Zum Beispiel Bern 1972, ein politisches Tagebuch», nach den Reminiszenzen zum 100 Jahre-Jubiläum der Kunsthalle und in Ergänzung von Kurt Blums Fotografien aus der und über die Berner Kunstszene der 1950er bis 1970er Jahre – nach diesen Dokumenten, Berichten und Erinnerungen bildet Iris Gerber Ritters fast archivalisches Buch einen weiteren Mosaikstein zur Vergegenwärtigung von Berns Vergangenheit in der Kunst und von einem auch heute besonderen Ort: dem Haus Postgasse 20.

(Foto: David Fürst)

Ermöglichungsräume

Der Ort ist nicht geplant worden. Er sich ergeben, ist so geworden durch die Menschen, Künstler*innen und Handwerker*innen, die darin lebten und tätig waren. Zuerst bestanden einzelne Ateliers und Werkstätten, später wurde das Erdgeschoss als Ausstellungsraum genutzt, noch später dienten einzelne Räume nur teilweise künstlerischer Arbeit, sondern mehr als Treffpunkte und pieds-à-terre für Bernbesuche auswärtiger Künstler*innen. Das Haus atmete, wie sich Verena Felber im Buch erinnert, etwas Atmosphärisches: «Man spürt, dass da Leute waren, seit langem, und nach wie vor sind, die an etwas sind, etwas erarbeiten (…) Es sind da Ermöglichungsräume.» Verena Felber, in Môtier lebend, teilte 7 Jahre mit Lilly Keller ein Atelier an der Postgasse. Sie ist eine der 18 Kunstschaffenden, die in etwa 90 Jahren im Haus ein- und ausgingen.

Marie-Françoise Robert, die ihr zweites Atelier im Haus nutzt, schreibt von der «âme du lieu» und spürt noch, wie sie in ihrem ersten Raum immer zuerst den Ofen einheizte: «Ich habe es genossen, hier einfeuern zu können, wo ich doch sonst nie mit Holz heizte. Die Wärme ist eine andere, behagliche, und ich liebte das leise Knistern des Feuers.»

Mäzenaten

Am Anfang stand die grosszügige Eigentümerfamilie Biedermann. Sie wollte Künstler*innen günstig wohnen und arbeiten lassen. Die Räume waren karg, ohne oder mit geringem Komfort, dafür billig und in der unteren Altstadt zentral gelegen. Zog jemand aus, fand sich ohne grossen Aufwand unter der Hand eine Nachfolger*in. Mietverträge gab es lange nicht. Seit den 1960er Jahren ist Marianne Vögeli, die das Haus 2003 mit ihrem Mann – dem Bildhauer Walter Vögeli – zusammen erwerben konnte, die Seele und Koordinatorin.

In den 1960er und 1970er Jahren lebte in Bern eine bunte, laute und selbstbewusste Kunstszene mit der Kunsthalle, ein paar Galerien und Beizen als Fix- und Treffpunkten. Eine öffentliche Kunstförderung setzte erst gegen Ende der Periode sachte ein.

Eine vielfältige Kunstszene

Pia Berla, Nutzerin mit Atelier von 2002 bis 2006, beschreibt einen Besuch im ehemaligen Atelier so: «Das Haus hat mich aufgenommen wie damals. Ich laufe die Treppen hoch, die Spirale schlauft mich ein in die Vergangenheit. Im 3. Stock das ehemalige Atelier mit Aussicht auf die andere Seite der Aare, auf den Sonnenhang, auf die währschaften Häuser, auf das Spiel von Licht und Schatten in den Bäumen. Ich beginne, dem Wispern und Knarren im Haus zuzuhören und erinnere mich, wie sich Geschichten in meine Zeichnungen einschlichen, in meine Bilder. Im Winter, wenn ich, in eine Decke eingewickelt, ab und zu Holz in den Kanonenofen nachlegte, schweiften meine Gedanken ab von Farben und Formen in Wortfolgen, in Sätze. Ich begann zu schreiben. Das Haus, das bildenden Künstlerinnen und Künstlern Obdach bot, wurde neben dem Malen zu meinem Schreibort.»

Durch diese Tür sind in den letzten 90 Jahren 18 Künstler*innen ein und ausgegangen. (Foto: David Fürst)

18 Künstlerinnen und Künstler belegten seit 1936 für kürzere und längere Zeit, einzeln oder zu zweit die Räume vom Keller bis zum 3. Stock, nord- und südseitig. Einige Namen neben den bereits erwähnten: Meret Oppenheim, Esther Altorfer, Egbert Moehsnang, Nick Hosig, Alexander Mühlegg.

Manche hatten Ausstellungen in der Kunsthalle, an Weihnachtsausstellungen, in Galerien. Einige wurden berühmt. Das nachgelassene Werk verschiedener Postgasse-BewohnerInnen fand Aufnahme und Betreuung bei ArchivArte und in der Art-Nachlassstiftung.

Das Umfeld

Im Parterreraum des Hauses wurden seit 1986 bis heute rund 50 Ausstellungen durchgeführt, viele davon mit Werken des ehemaligen Hausherrn, des Plastikers Walter «Pips» Vögeli. 2011 stellte Marianne Vögeli unter dem Titel «70 Jahre Künstlerhaus» Werke ehemaliger und noch im Haus aktiver Künstler*innen zusammen.

Natürlich bildete sich um das Haus ein Umfeld, das nie zu einer Gruppe gerann. Iris Gerber Ritter schreibt: «Wer im Atelier arbeitete und wohnte, bildete mit den Hausgenoss*innen keine Lebensgemeinschaft, die über übliche nachbarschaftliche Beziehungen hinausgewachsen wäre und sich zu einer Künstlerkolonie entwickelt hätte.» Doch es gab Momente der Zusammenarbeit und im Kontinuum von Schaffen und Leben bildete sich eine Gemeinschaft mit einigen Kunstschaffenden, Kurator*innen, Fotograf*innen, Kunstsammler*innen. Einige Namen: Leonardo Bezzola, Vincent O. Carter, Toni Grieb, Elsbeth, Gysi, Carlo Lischetti, Bernhard und Ursi Luginbühl, Paul Nizon. Jimmy Schneider, Daniel Spoerri.

Für die neueste Ausgabe des Kunstbulletins (1-2 / 2024) fragten Meret Arnold und Deborah Keller Künstlerinnen und Künstler zu ihrem Schaffen im Jetzt. Die Burgdorfer PlastikerInnen Lang/Baumann antworteten: «Die Fragen an die Kunst bleiben die gleichen, auch wenn sich die Welt weiterdreht: Wie kann sie Einblick bieten ins Denken und in Erfahrungen von ganz unterschiedlichen Menschen? Die Kunstkritik, die lange eine Verbindung herstellte zwischen Kunst und Gesellschaft, verschwindet immer mehr – ein Verlust, denn eine Besprechung einer Ausstellung lässt Anteilnahme in anderer Form zu.»

Und Isabelle Krieg fragt zurück: «Erlaube ich es mir, in diesen lebensbedrohenden Zeiten noch Kunst zu machen? Wenn ich das Herz voll Kummer und Angst habe wegen der dystopisch lodernden Welt: Wie kann die Kunst unabhängig, frei und lustvoll bleiben? Und gleichzeitig: Wie kann sie vermittelnd, friedensstiftend, machtvoll werden?»

Natürlich wüsste man gern, was die Bewohner*innen der Postgasse 20 dazu denken.

Was ist und was bleibt?

Als Mitinitiant des städtischen Zentrums für Kulturproduktion PROGR, das 2004 in einem ehemaligen Schulhaus mit zahlreichen Ateliers den Betrieb aufgenommen hat, frage ich mich: Ist es heute besser als damals? War es damals besser als heute?

Sicher ist: Vor der öffentlichen Kunstförderung gab es in Bern nicht nichts. Einzelne Menschen und Familien boten Künstler*innen aller Sparten Obdach, indem sie Räume zu sehr günstigen Bedingungen zur Verfügung stellen, sich kaum einmischten, freie Verhältnisse ermöglichten. Dafür ist in Bern auch das Schwob-Haus in der Länggasse ein Beispiel, in dem etwa Serge Brignoni lange leben und arbeiten konnte.

Arm zu sein, war in den 1960er und 1970er Jahren kein Makel, gehörte in der Kunstszene fast dazu. Es gab andere Werte als materielle, andere Qualitäten als Geld. Das soll nicht zynisch verstanden werden, aber mehr als heute drehte sich Manches um Inhalte und Qualitäten in der Kunst.

(Foto: David Fürst)

Zudem: Die Kunstsparten Musik, Theater, Tanz, bildende Kunst usw. hatten deutlich mehr gemeinsame Orte und Treffpunkte als heute, wo sie sich – und ihr Publikum – in noch kleinere Bereiche ausdifferenziert haben. Der am Stadttheater engagierte Tänzer Daniel Spoerri etwa brachte das surrealistischen Stücks «Le désir attrapé par la queue» von Pablo Picasso im Atelier-Theater auf die Bühne, versuchte sich später in Paris erfolgreich mit den «tableaux pièges» als Maler und initiierte in den 1980er Jahren im toskanischen Seggiano den Skulpturenpark «Il giardino di Daniel Spoerri».

Es ist müssig, hier auf knappem Raum einen fundierten Vergleich versuchen zu wollen. Als das Künstlerhaus noch vor dem Zweiten Weltkrieg «begann» und dann in den 1960er und 1970er Jahren zur Blüte kam, war eine andere Zeit im Guten wie im Schwierigen.

Toll, dass es das Künstlerhaus noch gibt. Und gut, dass die allgemeine Entwicklung hin zu mehr Komfort und Raum dessen Wesen, dessen «âme du lieu» nichts anhaben konnte. Iris Gerber Ritter hat dem Haus ein Denkmal gesetzt. Nicht im Sinne der Denkmalpflege, wohl aber als Erinnerung an selbstloses privates Mäzenatentum der Familie Biedermann. Und als Ermahnung: Der Staat oder die Stadt soll und kann nicht alles. In Zeiten knapper Finanzen sind Private umso mehr gefragt, mit ihrem Interesse an der Sache und den Menschen und mit ihrem Geld.

Iris Gerber Ritter: Das Künstlerhaus Postgasse 20 Bern. Hier bewegt sich die Idee, Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2023, 189 Seiten