Im Gartenpavillon des Landsitzes Brünnen eröffnete Moderatorin Rachel Mader das fünfte Café public mit einigen Hinweisen auf die gesellschaftlichen Funktion der Kunst im öffentlichen Raum, der «heute erneut ziemlich viel zugetraut, vielleicht auch: zugemutet» werde. Vor Zeiten sollte Kunst die Leute mit Schönheit erbauen, später zu gebildeten Wesen erziehen, sie sollte als «sozialer Kitt» die Widersprüche mit schönem Schein übertünchen (statt politisch aus der Welt schaffen) oder sie sollte Ort gesellschaftlicher Utopien sein.
Heute sei Kunst im öffentlichen Raum am ehesten der Ort, wo Gesellschaft reflektiert und kritisch kommentiert werde. Zum Beispiel gehe es um die künstlerische Auseinandersetzung mit kulturellen Unterschieden. Als Belege für diese These dienten drei Beispiele.
Plötzlich hiess Bundesrat Merz Bimi Lajq
Das vorgestellte Projekt des Künstlerduos Haus am Gern (Barbara Meyer Cesta/Rudolf Steiner) heisst «Kidswest-Bundesrat». Am 23. April 2009 wurde im Tscharnergut eine veritable Bundesratsfoto vorgestellt, auf der acht Migrantenkinder aus dem Westen Berns zu sehen waren. Aber aufgenommen worden war sie tatsächlich vom Bundesratsfotografen Michael Stahl im Originalstudio mit offiziellem Bundesratsfotodesign, und die Kinder stellten tatsächlich von Merz bis Calmy-Rey und Casanova den Bundesrat und die Bundeskanzlerin dar.
Hinter den Kindern und dem Künstlerduo lag zu diesem Zeitpunkt ein einjähriger Prozess mit vielen Diskussionen, mit der Einverständniserklärung des Gesamtbundesrats zum Projekt, mit einem Elternabend, bei dem die Eltern schriftlich ihr Einverständnis zum öffentlichen Auftritt ihres Kindes erteilen mussten und mit dem Fototermin im Bundeshaus als Höhepunkt, zu dem die Kinder in einer offiziellen Limousine vorgefahren wurden.
Die Erfahrung aus diesem Prozess, die die Kinder und das Künstlerduo gleichermassen gemacht haben: «Mit Mut und Chuzpe kann man auf die Realität einwirken», so Barbara Meyer Cesta. Die «Bundesratskarte» spreche Bände über die Schweiz. Möglich geworden sei sie nur, weil das Projekt als «Kunst» von der offiziellen Politik nicht sehr ernst genommen worden sei und bei seiner Ablehnung schlechte Medienreaktionen absehbar gewesen wären. Meyer-Cesta: «Mit den gesetzten Themen Grenzen sprengen: Das ist die subversive Möglichkeit, die man mit Kunst hat.»
Die Ergründung des Dritten in der Kommunikation
Das Projekt «Décalage» (Verschiebung) von Iris Rennert und Nora Hauswirth schrieb sich am 11. Juni 2015 im Brünnenpark als künstlerische Auseinandersetzung ein in die Jubiläumsfeier von INTERPRET, der schweizerischen Interessengemeinschaft für interkulturelles Dolmetschen und Vermitteln und des Kunstprojekts «Westfenster». Der anwesende Bundesrat Berset bezeichnete die Arbeit des Dolmetschens als «ein wichtiges Bindeglied zwischen den Migrantinnen und Migranten und Menschen im öffentlichen Dienst».
«Décalage» bestand aus Hörstationen mit Audioporträts von interkulturell Dolmetschenden, aus Maja Gusbertis Arbeit «Tableaux vivants», einer Reflexion und Anordnung von Aussagen von INTERPRET-AbsolventInnen, sowie einem Fussballspiel zwischen zwei Teams des FC Bethlehem, das von der Sportmoderatorin Barbara Colpi nach den Regeln der Kunst kommentiert und vom Moderator Hannes Hug und der Autorin Suzanne Zahnd quasi interkulturell vermittelt wurde – exakt in jener trialogischen Konstellation, in der das interkulturelle Dolmetschen zwischen Fachperson und Klientel das vermittelnde Dritte bildet.
Nach der Veranstaltung erwähnte Rennert im Gespräch Aussagen von Absolventinnen der Ausbildung. Die erste: «Ich will nicht im Zentrum stehen, ich will aber wirken.» Dies treffe auch immer mehr auf ihre Rolle als Künstlerin zu, sagt sie: Während das Selbstdarstellerische in den Hintergrund trete, werde die Funktion des Dritten, das sich in den Dienst der Erzählspur stelle, immer wichtiger. Die zweite Aussage: «Das Zentrale beim interkulturellen Dolmetschen ist nicht das Wort, nicht die Sprache, sondern, ob man verstehen will.» Heisst: Ohne die Offenheit zur Rezeption scheitert jede interkulturelle Bemühung. (Bedenkenswert auch mit Blick auf den Rechtsrutsch bei den Wahlen letzthin.)
Explosion der Klischees und Stereotypen
Clovis Inocencio, Schauspieler und Sozialarbeiter mit brasilianischen Wurzeln, erzählte am Café public V über das Theaterstück «Erika in Afrika», das im Sommer 2014 im Schlachthaus Theater Bern aufgeführt worden ist. Verfasst wurde es von Matto Kämpf und Raphael Urweider, Inocencio selber spielte einen brasilianischen Herzensbrecher.
Jetzt erzählt er, wie die beiden Autoren beim Versuch gescheitert seien, die Liebesbeziehung eines Schweizers und einer Ausländerin im Rahmen interkultureller Biederkeit – quasi politisch korrekt – als Theaterstück zu gestalten, und wie sie während der Arbeit die Grenzen haben explodieren lassen. Der «Bund» umschrieb das, was dabei schliesslich herauskam, als «ein kunterbuntes, klamaukiges und vergnügliches Durcheinander von Klischees und Stereotypen».
Die anschliessende Diskussion am Café public V ging von der Frage aus, ob Kunst das Konzept der Interkulturalität brauchen könne. Die Antworten fielen skeptisch aus. Rudolf Steiner: «Auf dieser platten Schiene können wir unser Anliegen gar nicht formulieren.» Und Inocencio wies auf die Machtverhältnisse hin, die der Begriff der Interkulturalität verschleiert: «Wenn bei Kunst der Name Migration draufsteht, dann ist das schon eine Paternalisierung.» Nicht anders haben emanzipierte Frauen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts Begriffe wie «Frauenkunst» oder «Frauenliteratur» kritisiert.
Kollektiver Prozess statt Produkte eines Genies
Zwei Befunde, die schon in früheren Debatten angesprochen worden sind, hat das fünfte Café public bestätigt: Die hier verhandelte Kunst hat die Begriffe der Autorschaft und des Werks weitgehend dekonstruiert. Alle drei vorgestellten Projekte sind geprägt von Prozessen, die von Kollektiven durchlaufen und gestaltet worden sind. Die Autorschaft und die Fixierung des Prozesses im Werk – die Bundesratskarte, die Jubiläumsfeier von INTERPRET, die Aufführung im Schlachthaus – erscheinen nicht nur als Zweck des Prozesses, sondern ebensosehr als Konzession an die Geldgeber.
Immer klarer wird: Für die Kunst im öffentlichen Raum sind Werk und Autor das Nichtgemeinte. Insofern dreht dieses Verständnis den konventionellen Kunst-Begriff um: Für jenen ist der Entstehungsprozess des Werks einer Autorschaft das Nichtgemeinte. Gemeint ist in der konventionellen Kunst die kleingewerblich produzierte Ware für den Markt.