Kulturforum als Streit- und Versöhnungsort

von Christoph Reichenau 15. November 2016

Am 4. November veröffentlichte der Gemeinderat die Kulturstrategie der Stadt Bern. Sie gilt bis 2028. Für die ersten vier Jahre sind konkrete Ziele und Massnahmen festgelegt. Erstaunlich konkret.

Die umfassende, auf 12 Jahre angelegte Kulturstrategie wird in sechs Handlungsfeldern umgesetzt. Das sind Kulturproduktion, Zugang zu Kultur, Ausstrahlung, Freiräume, Partizipation und Dialog, Kooperation.

Für die erste Etappe 2017-2020 setzt der Gemeinderat drei Prioritäten:

• Verstärkung des Dialogs, der Kommunikation und der Transparenz;

• Stärkere Unterstützung der Kinder- und Jugendkultur;

• Vereinfachung des Bewilligungswesens und erleichterte Nutzung des öffentlichen Raums.

Der Partizipationsprozess gebar die Prioritäten

Die Prioritäten ergeben sich aus dem Prozess, in dem die Strategie von Kulturschaffenden, Verwaltung und politischen Akteuren erarbeitet worden ist. Als Projektleiterin Franziska Burkhardt am Anfang der Übung mit etwa 150 Personen redete, um die Bedürfnisse zu erfahren, von den Defiziten zu hören und Vertrauen aufzubauen, schälten sich Handlungsfelder heraus. Sie wurden später an zwei sogenannten Kulturforen mit je etwa hundert Beteiligten näher umrissen und geklärt. Für die Handlungsfelder wurden anschliessend kollektiv Ziele gesteckt und in aufwendigen Diskussionen zwischen Teilnehmenden aus der Kulturszene und aus der Stadtverwaltung Massnahmen bestimmt: Was muss getan werden, damit ein gestecktes Ziel in einem definierten Handlungsfeld erreicht werden kann? Und: Wer muss handeln, in Kooperation mit welchen anderen und mit welchen Mitteln – personellen, finanziellen, rechtlichen?

Das ist jetzt für 2017 bis 2020 klar festgelegt und übersichtlich in einem Büchlein dargestellt. Das Büchlein ist dreierlei: Auftrag, Handlungsanweisung und Checkliste, um in vier Jahren zu prüfen, was getan und was erreicht worden ist. Der Gemeinderat hält sich nicht bedeckt, sondern liefert in seltener Transparenz gleichsam die Folie mit für die Kritik an ihm. Wer nämlich denkt, die Massnahmen seien ungeeignet für die Erreichung der Ziele, kann sich melden. Oder wer findet, für die Massnahmen stünden ungenügende Ressourcen bereit, soll dies vorbringen. Die Angaben stehen klar und deutlich schwarz auf gelb.

Knackpunkt: Freie Mittel – gebundene Mittel

Die Prioritäten 2017 bis 2020 nehmen die zeitlich und inhaltlich dringlichsten Anliegen der beteiligten Kulturleute auf. Mehr Dialog, Kommunikation und Transparenz ist wohl die in den letzten Jahren meistgehörte Erwartung an die Kulturförderung. Dazu gehört aber zum Beispiel auch diese Massnahme: «Überprüfen der bestehenden Förderstrukturen, Fördergrundsätze, der Förderbudgets der verschiedenen Sparten im Vergleich und im Verhältnis freie Mittel / gebundene Mittel.»

Im Klartext: Die zuständige Abteilung KulturStadtBern (früher Abteilung Kulturelles) muss alles, was der Förderung dient oder dienen sollte, mit den Beteiligten und Betroffenen anschauen und je nach Ergebnis neue Lösungen vorschlagen. Der Passus «Verhältnis freie Mittel / gebundene Mittel» zielt auf die Tatsache, dass heute wohl 90 Prozent der Kulturgelder an die Institutionen mit Leistungsvereinbarung gehen («gebundene Mittel», davon der Löwenanteil an KonzertTheaterBern) und für die Freie Szene sowie weitere Zwecke lediglich ein Zehntel bleibt.

Dieses Verhältnis steht also zur Diskussion. Neue Lösungen können darin bestehen, das Förderbudget insgesamt zu erhöhen oder den Anteil freie Mittel zu Lasten der gebundenen Mittel zu erhöhen. Die Prüfung ist dringlich. Das muss sein, denn die geltenden Leistungsvereinbarungen laufen bis Ende 2019 und werden wohl spätestens Anfang 2018 neu verhandelt. Dazu heisst es in der Strategie, die Stadt verlange «von subventionierten Akteurinnen und Akteuren oder Institutionen entsprechende Selbstkritik».

Eine zweite Massnahme: «Etablierung einer neuen Gesprächsreihe (…) Streitgespräch zur Verteilung der Fördergelder, Tagung zum Thema Vermittlung, Kooperation Institutionen / Freie Szene u.a.» Auch diese Massnahme wird in die Hände von KulturStadtBern gelegt. Unter anderem für Kommunikation, Website und Soziale Medien wird dort ab 2018 eine neue Stelle geschaffen; bis dann soll eine Minivariante der Gesprächsreihe aus dem Globalbudget der Abteilung finanziert werden.

Das heisst:  Bei den Massnahmen geht es nicht um fromme Wünsche, die mit den bestehenden Ressourcen irgendwie von irgendwem auch noch erfüllt werden sollen. Es geht vielmehr um konkrete, präzis umrissene Aufträge. Und um die erforderlichen Mittel. In der Medienmitteilung der Stadt steht: «Sofern zusätzliche Ressourcen für die Umsetzung der Massnahmen benötigt werden, ermächtigt der Gemeinderat die betroffenen Amtsstellen, diese in die Finanzplanung aufzunehmen.»

Kinder- und Jugendkultur

Auch die zweite Priorität ist logisch. Zugang zu Kultur beginnt möglichst früh. Die Schule ist zentral, weil dort Kinder jeder Herkunft in Klassenverbände eingeteilt werden. Auch ist es sehr wichtig, dass nicht nur die «Freiwilligen» (die motivierten, um Aufmerksamkeit bedachten Schülerinnen und Schüler), sondern alle Kinder und Jugendlichen einer Klasse zum Zug kommen. Der Zürcher Erziehungswissenschafter Roland Reichenbach mit seinem Team hat in einer Studie festgehalten: «Der damit verbundene Vorteil ist sicher, dass mit diesem leichten Verpflichtungscharakter auch Kinder und Jugendlichen eine Chance zur Artikulation und Präsentation ihres Tuns und Könnens erhalten, die sonst ein meist ungesehenes, ungehörtes und unbefragtes Leben (auch innerhalb der Peers) führen.»

Auch hier ist der Plan handfest: Schul- und Jugendamt können für 2018 insgesamt 311‘000 Franken zusätzlich in den Finanzplan einsetzen, KulturStadtBern für Laienprojekte 100‘000 Franken mehr, kulturelle Einzelprojekte Jugendlicher sollen nochmals mit 80‘000 Franken unterstützt werden.

Einfachere Bewilligungen

Die Ziele sind hoch gesteckt: Die Verwaltung soll beraten und ermöglichen, Bewilligungen sollen einfach einzuholen sein, einzelne Bewilligungskompetenzen – etwa im Gastgewerbe – von der Kantons- auf die Gemeindeebene herunter geholt werden. Das Polizeiinspektorat ist willig, der Gemeinderat unterstützt.

Startbereit

Wer im Vierjahresplan liest, findet Erstaunliches. Jede der 49 Massnahmen ist ziemlich präzis formuliert, einem Amt oder mehreren Ämtern sowie aufgezählten Mitwirkenden zugewiesen,  terminiert und mit Ressourcen bestückt. Es wird nicht dem Zufall überlassen, ob etwas geschieht. Alle 49 Massnahmen-Rösslein stehen also gefüttert am Start. Jockeys sitzen im Sattel. Am 1. Januar 2017 geht es los. KulturStadtBern ist beauftragt, das Rennen in geordneten Bahnen zu halten, zu koordinieren und zu kontrollieren. Die Abteilung erhält dafür eine zusätzliche Stelle, die auch für Kommunikation zuständig ist. Jedes Generalsekretariat der fünf Direktionen bezeichnet eine Person als Botschafterin für Kultur, die zu KulturStadtBern Kontakt hält. So scheint die Stadtverwaltung gerüstet und motiviert.

Ist die Seite der Kulturtätigen, der Schaffenden, Organisierenden, Vermittelnden, der Professionellen und der Laien ihrerseits organisiert? Kaum. Bekult vereint die Veranstaltenden, einzelne Organisationen vertreten Künstlerinnen und Künstler einzelner Sparten. Eine Gesamtorganisation der kulturell tätigen Laien fehlt, desgleichen ein Verband für Kinder- und Jugendkultur. Und jene, die Kunst und Kultur nutzen, schweben, wenn sie nicht dem Freundesverein einer Institution angehören, frei herum. Dabei sind gerade sie nicht nur als Konsumierende gefragt: «Das Publikum ist nicht Rezipient, sondern Produzent seines eigenen Werkes.» (Claudia Rosiny)

Zwei Wünsche

Ist jetzt Vereinsmeierei angesagt, Interessenhuberei, forsches Eintreten für partikulare Anliegen? Ich denke nicht. Wichtig erscheint, dass eine Errungenschaft der Erarbeitung der Strategie bewahrt wird: Die regelmässige, zum Beispiel jährliche Durchführung eines Kulturforums. Das stelle ich mir als Treffen aller vor, die im Sinne des breiten Kulturverständnisses aktiv sind, als Täter, als Förderer, als Nutzende, als Ermöglicher, männlich und weiblich.

Am Forum würde über den Stand der Umsetzung berichtet und debattiert, kritisiert, gedankt, angestossen, angeregt. Ein Kulturforum als regelmässiger Streit- und Versöhnungsort. Das wäre selbst ein Stück Kultur. Der Kultur, die – gerade in der Hauptstadt der Schweiz – aus vielen Perspektiven und Positionen einen breiten Konsens erstreitet und lebt.

Es wäre toll, wenn KulturStadtBern die Schaffung eines solchen Forums zur eigenen Sache machte.

Und noch ein Wunsch: Bei der Präsentation der Strategie durch den Gemeinderat lagen die Büchlein abholbereit auf einem Tisch. Eine Diskussion war nicht möglich und nicht vorgesehen. Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer standen deshalb beim Apéro auch herum wie bestellt und nicht abgeholt. Das ist schade. Schade für die durch den Erarbeitungsprozess entstandenen Beziehungen, schade um die Bereitschaft zum Engagement so Vieler und schade für die Strategie selber, die letztlich in den Köpfen wirken muss. Es wäre deshalb eine vornehme Aufgabe der neuen Person im Stadtpräsidium, zur Diskussion einzuladen. Sozusagen als Kick-off der Umsetzung.