Kult, Genie, Widerstand.

von Thomas Jacobi 18. Mai 2018

Ballett und Widerstand, geht das? Ja, z.B. als künstlerische Selbstbehauptung gegenüber dem Kult der Naturwissenschaft. Oder wenn Ballett von Neuerfindung des eigenen Körpers, Selbstausdrucks und Lebensgefühls handelt und sich jugendlichem Aufbruch an die Seite stellt. Der zweiteilige Ballett-Event «Einstein» am Konzert Theater Bern mit den beiden Gewinnern des Berner Tanzpreises zeigt uns, wie das gelingen oder scheitern kann.

Sprichwörtlichkeit ist der Tod des Balletts, entleerte Formhülsen seine Nemesis. Am Einstein-Abend bekommen wir zweierlei zu sehen. Zur Einstimmung eben dieses. Und dann, in einem ganz anderen Universum, eine Explosion von Bewegungsvision und Körperlust.

Kapitulation

Das erste Stück des belgischen Choreografenduos Sara Olmo & Victor Launay beginnt und endet mit einer niedlichen, harmlosen Geste. Ein einsteinscher Protagonist dreht eine Girlandenbirne rein und am Ende wieder raus. Die Lichterkette leuchtet auf und erlischt. Eine banale Symbolik für Einsteins Werdegang am Vorabend seines Aufbruchs in die Vereinigten Staaten, die unbeeindruckend die Ambitionen dieses ersten tänzerischen Einstein-Kommentars umreisst.

Dabei wäre das Tableau spannend gewesen. Wissenschaftliche Karrieremobilität ins Land der Pioniere, die tragisch in ein Flüchtlingsdrama umschlagen wird. Rückblick auf eine abgelebte Ehe und Vorahnung des amerikanischen Starkults. Ein möglicher Urheber-Verrat an der Wissenschaftlerin-Geliebten im Gepäck. Die Kollision zwischen Genie und Mensch. Und nicht zuletzt grenzenlose Gesetze von Geist und Natur versus kleinstirnigem europäischem Rassismus. Allesamt künstlerische Chancen, die im Folgenden vergeben werden.

Denn hier wird etwas Realistisches versucht, was das Bühnenbild durchaus ermöglicht hätte (Bühne: Till Kuhnert). Drei wulstige, alteingesessene Bäume umspannen mit einer Dreiecksbeleuchtung aus simplen Glühbirnen atmosphärisch einen romantisch anmutenden Flecken in der Nacht. Am Rande eine Sitzbank und dann und wann umrundet und durchkreuzt das gleiche Velo die Szene, während der anheimelnde Platz von tanzenden Pärchen im epochengestylten Kleidungsstil (Catherine Voeffray) bevölkert wird. Das sanfte Licht entlang dem Horizontstreifen lässt Dinge erahnen.

Da hätte sich einiges dieser weltberühmten Biografie andeuten und ausspielen lassen, wenn man sich nur ernsthaft dafür interessiert oder es gewagt hätte. Stattdessen wird uns mit einer simplen psychologischen Gegenüberstellung die klassische Kapitulation der illustrierenden Kunst vor dem Geniekult der Naturwissenschaft vorgeführt.

Wechselnde Paar-Formationen im neckischen, amourösen Park-Stil eines Watteau oder Renoir führen uns zu gezupfter Sinti-Ländlermusik (Titi-Winterstein-Quintett) die trivial glückliche Lebenswelt des Normalmenschen in Tanzmustern vor, von denen nichts haften bleibt angesichts der Sprichwörtlichkeit ihrer lehrbuchhaften Formhülsen. Unter diesem heiteren Völkchen weilt nun der Übermensch Albert Einstein, der sich immer wieder im quälerischen Gestus der inneren Wesensschau von der Gruppe isoliert oder diese mit seinen genialen Visions-Spasmen in den Bann schlägt. Dann zuckt und wirbelt sich das Trüpplein der Normalmenschen ganz ungestüm und aufgerieben durcheinander, ohne zu wissen, wie ihnen geschieht.

Hier stimmen mindestens zwei Dinge nicht. Einfühlsam die Lebenswelt eines Einsteins nachzuempfinden heisst nicht, einem gesellschaftlichen Geniekult ehrfürchtig hinterherzulaufen. Im Gegenteil, es geht darum, diesem Widerstand zu leisten, indem wir uns kritisch wie wohlwollend dem Menschen zuwenden. Noch bedeutet es, dessen Innenwelt zu trivialisieren, wo im Normalleben bekanntlich bildhaftes Sinnieren und musikalische Denkmuster seine entdeckende Intuition wie ordnende Rationalität bestimmt haben. Was für ein Ereignis wäre es gewesen, auch nur diese Innenwelt in der kraftvollen und imaginativen Handschrift des Balletts zu erleben.

Wenn sich Kunst und (Natur-)Wissenschaft begegnen, muss die Kunst Widerstand leisten und ihren besonderen Kult in einem Kraftakt dem überfeierten Geniekult der (Natur-)Wissenschaft entgegenstemmen. Sie muss Farbe, Hände, Melodie, Sprache bekennen. Das ist sie uns, nämlich unserer viel weiter aufgefächerten Natur schuldig.

Widerstand

Diesen Gestus bekommen wir dann endlich zu sehen, wenn Po-Cheng Tsai in einem kahlen Raum, nur abgegrenzt von schlauchartigen, vertikalen Röhren (Bühne: Till Kuhnert), mit seinem Einstein-Kommentar «Inception» anhebt.

Inmitten der Bühne brodelt eine Ursuppe von TänzerInnen organisch in die Höhe, während sich eine Einzelfigur im Hintergrund aus dem eigenen Körper heraus Bahn zu brechen versucht. Am Ende die Punk-Version von Munchs Urschrei mit zerdehnten, platzenden Muskeln im Anschlag. Mozart liefert den Kontrast.

Hier scheint plötzlich eine andere Tanzkompagnie aufgestellt zu sein. Individuelle Körper treten erkennbar hervor, einzelne Talente zeigen, wie sie sich ausdrücken, TänzerInnen bekommen eine Chance zum expressiven Fortschritt und eine Tanzkompagnie die Gelegenheit, lebendig zu werden.

Jetzt ändert sich die Musik (Murcof; Les Tambours du Bronx), wird härter, treibender, mit pulsendem Beat und Dance-Strukturen der Strasse und der Electro-Clubs. In immer wieder neuen Gruppen- und Einzelformationen wird der Akt der um sich greifenden, in den Raum hinaustreibenden Selbsterfindung ausgelebt. Jede Bewegung scheint neu erfunden, in diesem Moment als Lösungsversuch erarbeitet.

Teils einzeln, teils korrespondierend im Duo oder Trio werden diese Momente der Selbstermächtigung kraftvoll durchgespielt und inspirieren über die Bühnenbarriere hinweg unmittelbar das eigene Körpergefühl. Dann tritt die ganze Gruppe unisono zu minimalistischen Synchrontänzen an, bei denen es oft nur ein gemeinsames Flirren der Hände oder archaische Einzelbewegungen benötigt, um dem spannungsgeladenen Heraustreten in die eigene Präsenz zum Ausdruck zu verhelfen.

Selbst wo sich die TänzerInnen zum Bühnenrand zurückkehrend ihrer Trenchcoats entledigen, die vom Saum halbhoch in parallelen Strichen markiert sind (Kostüm: Catherine Voeffray), bleibt diese Spannung fliessend erhalten. Zuweilen umfasst, zentriert und formalisiert dieser Stoffmantel die geballte Kraft des tänzerischen Selbstausdrucks. Dann wieder dient er als Enthüllungsrequisit, das zum Bersten gebracht wie eine alte Haut abgestreift wird.

Dieser pulsierende Rausch an Enthüllung und kreativer Selbstbehauptung ist zu allererst ein Akt der Selbstverwirklichung des Balletts. Erst in zweiter Linie ist er ein Kommentar zur erfinderischen Energie eines Einsteins. Denn hier wird keine illustrierende Veranschaulichung versucht, sondern tritt die Kunst des künstlerischen Körperausdrucks an, mit voller Wucht ihren eigenen Genius anzubieten.

Darin liegt die überwältigende Kraft dieser Bühnenarbeit. Sie würde auch ohne den einsteinschen Kontext nichts an ihrem elektrifizierenden, künstlerischen Wert verlieren.

Sakrale Kulturveralterung

Während sich jedoch diese geballte Energie auf der Bühne entlädt, gibt es kaum zuckende Glieder, wippende Köpfe oder kribbelige Hüften im Publikum an diesem zweiten Vorstellungsabend. Der Modus, der über den Zuschauerreihen schwebt, riecht nach sakraler Kulturveralterung. Und so tritt den Tänzerinnen beim Vorhang zumeist bürgerliches Unverständnis und Langeweile entgegen, so scheint es.

Die Dichotomie aber zwischen Insiderveranstaltung (an der Premiere) und Öde (danach) braucht es nicht im Ballett. Sie ist banal und gesellschaftlich unproduktiv. Und im Übrigen nicht ihr Geld wert. Warum sollen junge, begabte KünstlerInnen in die bürgerliche Leere hinein bereichernde Horizonte anbieten, die platzende Lust aufs Leben und fantasievolles Glücklichsein machen, wenn man überwältigte Fassungslosigkeit, Mittanzen und Schlüsselerlebnis haben könnte?

Dieses Stück (oder Teile davon) gehören raus in die Stadt und insbesondere in die Schulaulas, Jugendzentren und Jugendeventräume. In die Bahnhofshalle, auf den Eigerplatz, an eine Rave im Bremgarten, auf die Münsterterasse, in den Wankdorf-Einkaufstempel oder ans Gurten-Festival.

Jugendliche leben die Energie und den Gestus dieser Arbeit und sie sind bereit für Alternativen zum Kayne-Rihanna-Standard. Vorausgesetzt, sie müssen dafür nicht ihren widerständischen Pulsschlag aufgeben und werden nicht ihrer Lust auf Neuerfindung von Körper und Emotion entmündigt.

Ballett ist da mittendrin in dieser Kultur. Und kultischer Widerstand seine innere Natur. Das zeigt uns Po-Cheng Tsai so brillant an diesem Abend.

Einsteins Vermächtnis

Einstein hat uns etwas vorgelebt jenseits von mumifizierten Genievitrinen. Nämlich Widerstand gegen etablierte Denkmuster und den frechen, jugendlichen Wagemut, Lücken im alten System zu überspringen, indem man es neu erfindet und ausformuliert.

Wenn Theater seinem öffentlichen Auftrag nach erneuernder Fortentwicklung der Gesellschaft nachkommen würde, dann wäre diese Geschichte in den Händen von Po-Cheng Tsai unmittelbar der nächsten Generation an die Hand gegeben worden. Auch davon hätte die Aufführungsgeschichte dieses Stücks handeln können.