Kreativer Schmelztiegel mit Rätsel-Expedition

von Ursula Pinheiro-Weber 1. November 2012

Das Team von Fata Morgana lädt in der «Chocolat-Tobler-Fabrik» zur rätselhaften Zeitreise – und nimmt so Abschied vom Gebäude, das abgerissen wird.

Die Bahnstrasse 21. Eine Abbruchfabrik im westlichen Holligengebiet, neben der Kehrrichtverbrennungsanlage KVA. Ein Hindu-Tempel weist auf dem Park-Vorplatz in Hindu-Schrift auf diverse Veranstaltungen hin. In den Hallen erblicken wir Maschinen, Geräte, Möbel, Zwiebelsäcke, Kürbisse, einen Kronleuchter aus Baby-Puppen, Filmprojektoren, ungezählten Schnickschnack und viele Uhren, die wie symbolisch auf das Ende dieses Kreativ-Schuppens hinweisen. Der Standort des Lichtspiels, des Spielmaterialverleihs und weiterer Ateliers soll nämlich nächstes Jahr abgerissen werden.

Die Kehrrichtverbrennungsanlage (KVA) im Westen Berns wird aus betrieblichen, finanziellen, städtebaulichen und ökologischen Gründen abgebrochen und im Gebiet Forsthaus West neu erstellt. Am frei werdenden Standort soll gemäss der Stadt Bern ein «attraktives Vorzeige-Wohnquartier» entstehen, welches dem Stadtteil aus ökologischer und sozio-kultureller Hinsicht neue Impulse verleihen soll. Das Volk hat der Zonenplanänderung diesen September zugestimmt. Weitere stadteigene Grundstücke sollen in die Entwicklung des gesamten Perimeters einbezogen werden. Dies trifft auch die Bahnstrasse 21, die ehemalige Chocolat-Tobler-Fabrik, Wirkstätte verschiedener Ateliers. Das Lichtspiel beispielsweise, welches mit seiner grössten privaten Kinosammlung Europas eine Projektorengalerie, Visionierungstische, Ersatzteillager und Werkstatt betrieben hat, ist schon umgezogen. In der ehemaligen Strickfabrik Ryff neben der Dampfzentrale entsteht auf 1000 Quadratmetern das neue «Filmhaus Bern», in dem sich Filmproduktion, Filmvermittlung und -archivierung vereinen und ergänzen.

Das Ende des Spielmaterialverleihs

Einer, der ebenfalls per Ende Januar 2013 seine gegen 300 Quadratmeter an der Bahnstrasse 21 «besenrein» verlassen muss, ist Babu Wälti. Der Schöpfer des Dreirads «Ferdy Füdler», des «Schreikastens» oder des «Wortschyssers» betreibt seit 15 Jahren eine Werkstatt, die vor kreativem Gnuusch nur so strotzt. Unbeschreiblich, was dort alles herumsteht, man muss es gesehen haben. Als «Chefkonstrukteur» des Berner Spielmaterialverleihs und Erfinder und Hersteller der schrägen Requisiten für die legendären Mystery-Weekends tüftelt und bastelt er in seinem Reich, wo alles Schrottartige eine Aufnahme findet und liebevoll neuen Funktionen zugeführt wird. Mit dem Erlernen des Schweissens als Kind im elterlichen Orgelbaubetrieb begann die Faszination für Neukreationen und -verbindungen von alten Dingen. Der Mitbegründer des Seifenkistenrennens «Grosse Berner Renntage», Autor des «Allgemeinen Ratgebers für Seifenkisten» und ehemalige Mitarbeiter in der offenen Kinderarbeit ist heute selbstständig. Er sieht sich als «Recycler». Dass der Mensch «Grümpel um sich ume scharet», sei gottgegeben, meint der Elektro-Mechano-Konstruktions- und Baufan. «Es ist alles Schrott, was ich verwende. Die Geräte und Objekte sind immer in Bewegung, man muss sie päppele und hätschle, damit sie funktionieren. Deshalb können sie auch nicht einfach verkauft oder verschenkt werden. Höchstens die Gartenzwerge finden vielleicht neue Besitzer.»

Die Gartenzwerge von Babu Wälti haben es in sich. Mit ihren abstrusen Details verweisen sie immer manchmal nett, mal humorvoll und manchmal gar etwas bösartig auf die Abgründe der heilen Welt, die sie eigentlich verkörpern. Zwei Gartenzwerge zeugen bei unserer Ankunft am Bahnweg 21 auch davon, dass wir am richtigen Ort sind. Inmitten von Metall, Blech, Elektronik, Glas, Holz, alten Geräten und Ausgedientem aller Art finden wir den legendären Chef des faszinierenden und verwirrlichen Reichs der Technik und Kreativität. Mit dem Mystodrom, einem Parcours mit 16 Posten, soll der Abbruch dieses Reichs durch eine würdige Verabschiedung besiegelt werden.

Mystodrom: As Times goes by…

In den Werkstätten, in denen früher Munitionskisten zu Seifenkisten konvertiert wurden, entstanden nun Planetarien, Zwergenwege und ein neuer Minotaurus für das 3D-Labyrinth. Mystodrom wurde vom Fata-Morgana-Team um Urs Hostettler und Babu Wälti ausgeheckt, welches unter anderem seit Jahren die erfolgreichen und legendären Mystery-Weekends durchführt. Im 7-Minuten-Takt werden die Gäste in Vierergruppen auf einem aberwitzigen Rätselparcours durch die alten Fabrikhallen geschickt. Die 16 Posten umfassen die Zeit vom «Jahr 1, Stunde 1» bis zum Jahr 2525, begleitet durch entsprechend kostümierte Betreuerinnen und Betreuer, untermalt von passender Musik. Bei Eintritt muss schon mal selber angepackt werden, damit es Licht werde. Der Tanz von Globussen und unterschiedliches Ticken verschiedenster Uhren leiten den Parcours ein. Der wohl aufwändigste Posten ist der Zwergenweg aus dem Jahre 1820, wo die Gäste von einem Grimms Brother empfangen werden und mit einem Helm samt Spiegel ausgerüstet («für die verkehrte Welt») in die Höhe gehievt werden. Auf den Treppchen, Hängebrücken, Engpässen und Seilen lauern wohl einige versteckte Gefahren. «Diese haben wir bestmöglich ausgemerzt», erzählt der Regisseur und Spieleautor Urs Hostettler, «die Hand muss aber immer am Geländer bleiben.» Zahlreiche Zwerge und sonstige Figuren hängen auf dem Kopf in den Dächern und Winkeln herum. Aha, deshalb der Spiegel … Dass die Rätselfrage hier erst am Schluss des Parcours gestellt wird, macht das Ganze noch mysteriöser.

Erst die Requisiten, dann die Geschichte dazu

Auf die Frage, wie die Ideen zustande kommen, windet Hostettler seinem Kollegen Babu Wälti ein Kränzchen: «Babu tüftelt mit dem Schrottmaterial und wandelt seine Ideen mit viel Humor in Geräte, bewegliche Objekte, skurrile Gegenstände und elektronische Aktionen aller Art um, woraus hochkreative Erfindungen der absurden, aberwitzigen und fantasiereichen Art entstehen. Ich denke mir dann die Geschichte und einen Ablauf darum herum aus, mache daraus ein sinnliches Erlebnis. Sinnlichkeit ist mir ein grosses Anliegen.»

Den Posten «Der fruchtbringende Trichter» zum Jahre 1650 ist ebenfalls das Resultat solcher Zusammenarbeit: Mit dem Verweis auf Philipp von Zesen, der 1650 eine Gesellschaft gründete, welche die «Fremdwörter» in der deutschen Sprache in Deutsch umwandeln wollte, gilt es, im abgedunkelten Raum die richtigen Vorschläge zu finden. Wenn aber «Natur» zu «Zeugemutter», die «Pistole» zu «Meuchelpfeffer» umgewandelt werden sollen, merkt man, dass die Gesellschaft von Zesens nicht überall erfolgreich war, auch wenn sie bis heute noch aktiv ist.

Nicht nur Wissen und logisches Denken führen zum Ziel

Nicht alle Aufgaben lassen sich mit Wissen und logischem Denken alleine lösen: Fantasie, Geschicklichkeit, Zusammenarbeit oder gar ein wenig Mut sind ebenso erforderlich, um ans Ziel zu kommen. Die rund zweistündige Zeitreise wird so zu einem be- und verzaubernden, sinnlichen Gesamterlebnis, einem einmaligen Gesamtkunstwerk, opulenter als ein Panoptikum, verwirrender als ein Irrgarten.

Nach den äusserst überraschenden und vielfältig gestalteten Stationen winkt die Erfrischung und der Erfahrungsaustausch an der As-times-goes-by-Bar. Über 70 Variationen des durch den Film «Casablanca» bekannt gewordenen Songs verweisen dabei auf die Vielfalt in der Welt und die Wandelbarkeit unserer Umgebung, so, wie dies die Bahnstrasse 21 erfahren wird.