Auf den ersten Blick wirkt das Schwob-Haus am Falkenhöhenweg 15 in Bern wie viele andere Häuser in dieser Strasse: sehr gross, mit etwas verwildertem Garten und alten Mauern. Doch das grosse Atelierfenster im obersten Stock lässt bereits von aussen die ganz besondere Schönheit dieses geschichtsträchtigen Gebäudes vermuten, das derzeit 13 Künstlerinnen und Künstlern als Arbeitsstätte dient und von den drei ehemaligen Kunsthochschul-Studierenden Aldir Polymeris, Giorgia Piffaretti und Nicolle Bussien bewohnt wird. Die Künstlerin Susanne Schwob hat das Haus 1967 der Stadt Bern vermacht – mit der testamentarischen Auflage, dass es nicht veräussert werden dürfe und zur Förderung der bildenden Künste genutzt werden müsse.
Veranstaltung im Wintergarten
Am Abend des 8. Februars weist eine kleine, handbeschriebene Tafel vor dem Hauseingang darauf hin, dass an diesem Mittwoch die 16. Ausgabe der Veranstaltungsreihe «Immer am Achten» stattfindet. Gezeigt wird laut Tafel das Tanzstück «Rosalinda Imm» aus Frankreich. Steinerne Treppenstufen führen hinauf zu der grossen Eingangstür, hinter der das Foyer im Halbdunkel liegt. Im matt erleuchteten Wintergarten im hinteren Teil des Hauses steht auf einem alten Steinboden ein abgewetztes, kleines Ledersofa neben einer improvisierten Bar, welche aus zwei Malerböcken und einer breiten Holzplatte besteht. Im Dämmerlicht ist eine Handvoll Leute bereits in angeregte Unterhaltungen vertieft. Hier scheinen sich alle zu kennen oder zumindest schon einmal über den Weg gelaufen zu sein, denn die Stimmung ist familiär und entspannt.
Die eigentliche Tanzperformance findet im angrenzenden Zimmer statt, einem hohen, hell erleuchteten Raum mit grossen Einbauschränken und einem alten, knarzenden Parkett. In der Mitte des Raumes klebt eine kreisförmige, schwarze Tanzfläche am Boden. Ein paar Leute sitzen mit dem Rücken zur Wand, andere haben Kameras dabei und suchen sich einen geeigneten Platz zum Fotografieren. Inzwischen ist der Raum brechend voll, und die leisen Gespräche verstummen langsam.
Tanz und Gespräche
Barfuss stellt sich die Tänzerin Lisa Miramond in die Mitte der kreisförmigen Fläche und blickt mit ernstem Gesichtsausdruck ins Leere. In der darauffolgenden halben Stunde schlüpft die Tänzerin in verschiedene Rollen – sie zeichnet mit ihren Bewegungen ein intimes Portrait abstrakter weiblicher Figuren und konfrontiert das Publikum zugleich mit ihrer eigenen Identität als Künstlerin. An der dahinterliegenden Wand ragt ihr Schatten vom Boden bis zur Decke. Davor kniet der Musiker Ben Pogonatos und untermalt mit seinem elektronischen und rhythmischen Klangteppich die leicht surreale Stimmung.
Am Ende der Vorstellung werden Tänzerin und Musiker mit einem begeisterten Applaus belohnt. Danach mischen sie sich unter das Publikum, und es entstehen intensive Gespräche über das Stück – einige davon werden in der kleinen Küche oder im Wintergarten weitergeführt, andere bei einer Zigarette draussen vor der Haustür oder auf dem Nachhauseweg.
Die Absicht von Daphné Achermann, der Choreographin des Tanzstücks, hat sich damit erfüllt: «Unser Ziel ist es, dass sich die Leute über die Facetten der weiblichen und künstlerischen Identität Gedanken machen und sich danach mit Fremden darüber unterhalten», erklärt sie. Hier habe das wunderbar funktioniert, denn das Schwob-Haus sei ein Ort für Austausch und für neue Bekanntschaften. «Als Kunstschaffende fühle ich mich hier sehr willkommen.» fügt Achermann hinzu.
«Das Beste was passieren kann»
«Es freut uns sehr, wenn wir solche Rückmeldungen bekommen.» meint Nicolle Bussien, als sie von Daphnés Begeisterung hört. Gemeinsam mit Aldir Polymeris und Giorgia Pifaretti wohnt und arbeitet sie seit knapp zwei Jahren im Schwob-Haus. «Das ist das Beste, was passieren kann – wenn jemand Energie und Lust hat, hierher zu kommen und von uns dafür den Raum bekommt. Wir geben auch noch ein wenig Energie dazu, machen einen Flyer und organisieren den Rest, und dann entsteht ein gelungener Abend, die Leute unterhalten sich und geniessen es, hier zu sein.»
Mit der Veranstaltungsreihe «Immer am Achten» haben sich die Mieterinnen und Mieter des Schwob-Hauses für ein aussenstehendes Publikum geöffnet. Die Reihe wurde am 8. Oktober 2015 zu Ehren von Susanne Schwobs 127. Geburtstag ins Leben gerufen. Seither findet im Schwob-Haus jeweils am Achten jedes Monats eine Veranstaltung statt. Dabei handelt es sich um völlig unterschiedliche Anlässe. «Das Programm entsteht oft recht spontan, je nach Lust, Kapazität und Ideen. Natürlich achten wir auf einen Bezug zur Kunst, schliesslich sind wir hier alles Kunstschaffende.», sagt Bussien. Sie ist 25 Jahre alt und in Zürich aufgewachsen. Gemeinsam mit der 27-jährigen Piffaretti hat sie den Bachelor in Fine Arts an der Hochschule der Künste Bern im Sommer 2015 abgeschlossen. Die beiden Frauen arbeiten beide im Bereich der Videokunst und bewohnen zwei grosse Zimmer im ersten Stock, wo sich auch eine gemütliche, kleine Küche und ein beeindruckendes altes Bad mit freistehender Badewanne befindet. Der dritte Hausbewohner, Polymeris, ist ebenfalls 27 Jahre alt, in Chile und in der Schweiz aufgewachsen und hat an der HKB den Bachelor in Vermittlung und Kunst studiert. Im Schwob-Haus bewohnt er ein Zimmer im Erdgeschoss und arbeitet an Tanz-, Theater- und Videoprojekten.
Was im Sommer 2015 als Zwischennutzung für die geplante Dauer von einem Jahr begann, ist zu etwas Längerfristigem geworden. Der vom Gemeinderat ursprünglich beabsichtigte Verkauf des Hauses – mit der Begründung, dass aus dem Erlös für das Haus eine grössere Zahl günstigerer Ateliers zur Verfügung gestellt werden könnte – wurde erfolgreich verhindert. Dass das Haus nun weitere drei Jahre genutzt werden darf, ist ein gutes Zeichen. «Wir konnten einige Missverständnisse klären und haben inzwischen ein gutes Verhältnis zur Stadt. Wir fühlen uns durchaus unterstützt und wertgeschätzt.», meint Aldir Polymeris.
Räume voll Kreativität
Was zur allgemeinen Zufriedenheit beitragen mag, ist die Tatsache, dass inzwischen alle nicht bewohnten Zimmer als Arbeitsräume genutzt werden. Sogar im Keller zwischen der Waschküche und dem Hinterausgang hat sich die Kreativität eingenistet: Die ehemalige Hausküche – ein ausladender, mit Keramikplatten ausgekleideter Raum – wird als Gipswerkstatt genutzt, und die kleine, leerstehende Vorratskammer wurde zum Fotolabor umfunktioniert. Besonders beeindruckend sind die Arbeitsplätze im Dachgeschoss, die vom hellen Lichteinfall durch die grossen Atelierfenster profitieren und meistens zum Malen benutzt werden.
Haussitzung mit Chips
Das Einzige, was in dem Haus noch fehlt, ist ein Gemeinschaftsraum. Zwar haben alle genügend Platz, doch eine wirkliche Begegnungszone im Arbeitsalltag oder einen fixen Veranstaltungsraum gibt es nicht. So findet auch die monatliche Haussitzung Ende Februar in einem der Atelierräume im Erdgeschoss statt – und zwar dort, wo vierzehn Tagen vorher noch getanzt und musiziert wurde. Musik ist heute keine zu hören, dafür sitzen die Mieterinnen und Mieter auf Stühlen im Kreis. Es werden Chips und Süssigkeiten von MM-Budget herumgereicht. Die Stimmung ist sachlich und konzentriert, während eine Person spricht, hören die anderen zu.
Zu Beginn wird über praktische Dinge diskutiert: Über den Baulärm im Nachbarhaus, eine leichte Erhöhung der Mietzinsen und über die Reparatur eines kaputten Fensters im Kelleratelier. Als diese Dinge geregelt sind, geht Polymeris – der das Gespräch auch bisher geleitet hat – zu grundsätzlicheren Fragen über. Das Haus ist nämlich an einem entscheidenden Punkt angelangt, nachdem die Stadt bekannt gegeben hat, dass der Mietvertrag ab Juni 2017 noch einmal für drei Jahre verlängert wird. «Wie soll es in den nächsten drei Jahren vorwärtsgehen? Und was ist der Zweck dieses Hauses?», fragt er in die Runde.
Längerfristige Planung
Alle sind sich einig, dass das Schwob-Haus ein Arbeitsort für bildende Künste ist und auch bleiben soll. Das Haus habe aber auch einen derart guten Standort, einen guten Spirit und eine spannende Vergangenheit, dass man diese für Bern einzigartige Situation für Projekte und Veranstaltungen weiter nutzen sollte. Das Problem sehen denn auch viele nicht in der Frage nach dem «Was», sondern vielmehr in jener nach dem «Wie» und «Wer». Mit Blick auf die kommenden drei Jahre ist es nötig und auch endlich möglich, solche Entscheidungen gemeinsam zu treffen und längerfristig vorauszuplanen.
Begegnungsort
Giorgia Piffaretti sieht den Entscheid der Stadt denn auch ein wenig als Neustart und als Antrieb, sich damit auseinanderzusetzen, was das Haus alles sein soll oder kann. «Es hat uns von Beginn an interessiert, dieses Haus als Begegnungsort zu nutzen und auch andere Leute, die nicht hier wohnen oder arbeiten, davon profitieren zu lassen», erklärt sie jetzt. Trotz der Einigkeit im Grundsatz gibt es ihrer Meinung nach noch viel zu besprechen: «Eine recht heikle Frage, die sich immer wieder stellt, lautet: Wie positioniert man sich mit einem Ort, der nicht institutionalisiert ist, und wie behält man dabei so viel Freiheit wie möglich? Das ist eine schwierige Gratwanderung. Man muss immer wieder fragen: Wo stehen die Anderen, was sind alle bereit, zu machen – und das finde ich so eigentlich recht schön.»
Für Nicolle Bussien geht es dabei auch um eine Auseinandersetzung mit der Kunstszene und deren Gepflogenheiten: «Ich persönlich wünsche mir, einen Begegnungsort zu schaffen, wo man hinkommen kann, auch wenn man nicht zur Kunstszene gehört und wo man einfach hingeht, wenn man Lust darauf hat.» Dieser Wunsch ist auf gutem Weg, in Erfüllung zu gehen. Die monatlichen Veranstaltungen sind bereits ein erster Erfolg in diese Richtung – und wer weiss, was in den nächsten drei Jahren noch alles passieren wird?
Was bereits feststeht: Ob als wunderschönes altes Gebäude mit Seltenheitswert, als unkomplizierter Begegnungsort, als Plattform für junge Künstler und Künstlerinnen oder als Raum für Experimente und Inspiration – das Schwob-Haus ist ein wunderbarer Ort, an den man immer wieder gern zurückkehrt.
Aus: Länggassblatt 244/2017
https://www.laenggassblatt.ch/