Die kirchliche Ja-Parole zur Konzernverantwortungs-Initiative gefiel nicht allen. Mitglieder des Berner Grossen Rates warfen ihrer Kirche vor, sie verlasse den Weg des richtigen Masses. Der Berner Theologe und Co-Redaktionsleiter der Zeitschrift «Neue Wege» beantwortet im folgenden Beitrag diesen Vorwurf. Wir übernehmen den Text aus Heft 12.20 der Neuen Wege:
Kirchenverantwortungsinitiative
Die Diskussion der Konzernverantwortungsinitiative war heftig. Die globale Tätigkeit der Konzerne und die universelle Gültigkeit der Menschenrechte, aber auch gerissene und fragwürdige Abstimmungskampagnen standen zur Debatte. Überraschend war die Begleitmusik: Die Haltung der Kirchen wurde zum grossen Thema. Mit Zwischentönen, Disharmonien, Paukenschlägen. Wer hätte das erwartet, nachdem das 21. Jahrhundert in der Schweiz ja längst als vollständig säkular oder als religiös zumindest vielfältig-beliebig apostrophiert worden war? Wir rieben uns die Augen: Nachdem religiöse Institutionen längst im freien Fall gewähnt werden, melden sich Kirchen in der gesellschaftspolitischen Debatte zurück. Und ihre Stimme, ihre Verkündigung im öffentlichen Raum, wird gehört.
Politiker*innen outeten sich im Abstimmungskampf plötzlich als Christ*innen und widersprachen «der Kirche». Sie komme sich als praktizierende Katholikin ausgegrenzt vor, sagte die Bundesrätin (NZZ, 7.11.20). Mit ihrem Credo allerdings, man müsse «die Welt nehmen, wie sie ist», verdeutlichte sie: So spricht eine Frau, die in dieser Welt obenauf schwimmt, die real nicht marginalisert wird. Mitglieder des Berner Grossrates schrieben ihrer Kirche, sie verlasse zunehmend den Weg des richtigen Masses. Woran die Kirche Mass nehmen soll, sagten sie auch: «Gerade in den ländlichen Gebieten, wo sowohl der Anteil der Kirchgänger wie der Kirchenmitglieder substanziell höher ist als in den städtischen Gebieten, stimmen und wählen der überwiegende Teil der Kirchenmitglieder bürgerlich.» Und Nationalrätinnen, die sich gegen die Initiative einsetzten, schrieben in einem offenen Brief, dass sie von den Kirchen «angeprangert» würden. Die Wortführerin, CVP-Fraktionschefin Andrea Gmür-Schönenberger, sah sich «als Frau» an nichts weniger als an Hexenverbrennungen erinnert. Reale Machtverhältnisse stehen kopf.
Eine doppelte Missinterpretation dieser Geschichten kommt bei Simon Hehli in der NZZ (8.10.20) zum Ausdruck: «Lehnen sich die Kirchenführer politisch zu sehr aus dem Fenster, riskieren sie die Spaltung.» Erstens waren es eben nicht die Kirchenführer, die dem Fussvolk ihre Meinung aufdrückten und orange Flaggen aufhängen liessen. Das Ja für mehr Konzernverantwortung war so stark in Kirchgemeinden, Pfarreien, Kantonalkirchen, kirchlichen Organisationen und Verbänden verankert und demokratisch legitimiert wie schon lange kein kirchliches Anliegen mehr – auch eine Frucht der jahrzehntelangen entwicklungspolitischen Arbeit der Hilfswerke. Zweitens: Die Initiative führte zu spaltenden Konflikten, gewiss. Sie spaltete etwa auch die CVP. Aber in den Kirchen geschah öfter das Gegenteil. Die Haltung zu Konzernverantwortung einte: reformierte und katholische Gemeinden, viele freikirchlich sogar; die Basis und die Leitungen; die Schweizer Kirchen und die weltweite Ökumene.
Ein weiteres Missverständnis drehte sich um die Theologie, um die Aufgabe von Kirchen. «Den Bedeutungsverlust versuchen sie wettzumachen, indem sie politische Debatten moralisch bewirtschaften.» Die Kirchen sähen sich als Meta-Instanz und nähmen ein «prophetisches Wächteramt» in Anspruch. So Michael Meier im Tages-Anzeiger (26.10.20).
Doch die prophetische Aufgabe, das Wachen und Beten, jedenfalls wenn dies biblisch fundiert wird, ist gerade nicht eine Macht-Position einer Meta-Instanz von oben. Es ist die machtlose, nicht mehr auf Staatsnähe und Mitgliederstärke basierende, aber glaubwürdige, weil auf keinen Eigeninteressen basierende Kritik von unten. Sie macht auf die globale Situation der Zertretenen, der an den Rand Gedrückten aufmerksam – heutzutage als Verfechterin der Menschenrechte und der Menschenwürde. Sie sorgt sich um die Bewahrung der Schöpfung statt um das Walten der unsichtbaren Hand zugunsten von Wachstum und Eigennutz. Und sie inspiriert eine Gemeinschaft zur Einübung der Praxis der Hoffnung, die jenseits von Angst und Hass das Reich Gottes erwartet. Die die Welt nicht so nehmen will, wie sie ist.