Politik - Kolumne

Koexistenz: auf dem Bahnhofsplatz und im Aktivismus

von Ari 22. September 2025

Vista Activa Unsere Kolumnistin macht sich an den Berner Nachhaltigkeitstagen Gedanken über Idealismus und Realität und darüber, wie beides miteinander koexistieren kann.

Am Samstag, 06. September 2025 begab ich mich voller Motivation frühmorgens auf den Bahnhofsplatz zum Eröffnungsfest der Berner Nachhaltigkeitstage. Mit fröhlich-sorgloser Stimmung sollte es hier schon bald festlich zu und her gehen: mit Musik, Vegi-Burger und über 40 Veranstaltenden, die an ihren Ständen stolz zeigten, welchen tollen Beitrag sie zur Nachhaltigkeit in und um die Stadt Bern leisten.

Wir von Health for Future Bern hatten beschlossen mitzumachen: An unserem Stand konnten die Besuchenden verschiedene Co-Benefits kennenlernen. Das sind individuelle Alltagsentscheidungen, die zugleich vorteilhaft für die eigene Gesundheit und die Umwelt sind. Die Besuchenden konnten dazu unter anderem auf ein Fahrrad steigen und den Rekord an zurückgelegten Kilometern brechen und auf einer Karte von Bern ihren Lieblingsnaturort mit einem Fähnchen kennzeichnen.

Doch im Laufe des Tages musste mein anfänglicher Idealismus der Realität weichen

Das alles vorzubereiten hatte viel Energie gekostet – wir hatten sie aus dem idealistischen Gedanken geschöpft, dass wir hier unkompliziert und niederschwellig Menschen zum Nachdenken anregen könnten. Darunter vielleicht sogar manche, bei denen das Vorhandensein des Zusammenhangs zwischen Klima und Gesundheit noch gar nicht angekommen war.

Doch im Laufe des Tages musste mein anfänglicher Idealismus der Realität weichen. Zwar nickten jene, denen ich begeistert von Co-Benefits, Klimaschutz und Gesundheitsmassnahmen erzählte, in auffallend hoher Frequenz, doch mich beschlich immer wieder das Gefühl, dass nicht so viel von dem Erzählten nachhaltig in den Köpfen bleiben würde.

Während ich gefühlt zum zwanzigsten Mal das gleiche sagte, kam mir wieder in den Sinn, warum wir uns in den Vorbereitungen nur widerwillig für die Co-Benefits entschieden hatten: Sie setzen vollkommen auf die individuelle Verantwortung – alle systemische Veränderungen bleiben in diesem Konzept aussen vor. Dabei brauchen wir unbedingt grundsätzlich politisches Umdenken und Umstrukturieren, eine Änderung des Systems. Warum haben wir uns dann trotzdem dazu entschieden, mit einem so aufs Individuum orientierten Thema an dieser Veranstaltung teilzunehmen?

Ein weiterer wichtiger Realitätsbezug waren die vielen Kinder, die sich auf dem Bahnhofsplatz austobten

Weil wir als aktivistische Gruppe uns immer wieder die Zähne daran ausbeissen, systemische Veränderungen voranzutreiben. Damit das funktioniert, braucht es viele Menschen, die sensibilisiert sind und eine Notwendigkeit für Veränderung sehen. Um das zu erreichen, müssen wir überall ansetzen, wo wir können, mit Sensibilisierungsarbeit auf allen Ebenen und in allen Bevölkerungsgruppen und da landen wir schlussendlich wieder beim persönlichen Gespräch auf dem Bahnhofsplatz. Aber natürlich müssen wir gleichzeitig auch weiter systemische Veränderungen anstreben. Wir brauchen beides!

Trotz all diesen Überlegungen ist es einfach nur idealistisch, dass ein paar Gespräche und Heile-Welt-Fest die Welt vor der Klimakrise bewahren wird. Umso mehr habe ich mich am Samstag über die Realitätsbezüge gefreut. So waren neben den vielen sehr privilegierten Personen am Samstag auch viele Menschen auf dem Bahnhofsplatz mit einem verletzlicheren sozio-ökonomischen Hintergrund da; eine Vermischung von Lebensrealitäten, die leider an vielen vergleichbaren Anlässen vermieden wird. So schottete sich das Fest –gerade durch die Lokalisation am Bahnhofsplatz – zumindest nicht völlig in ihre eigene Welt ab, sondern war ein Ort, wo Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen zusammen kamen.

Ein weiterer wichtiger Realitätsbezug waren die vielen Kinder, die sich auf dem Bahnhofsplatz austobten, spielten und teilweise an den Ständen ganz interessiert zuhörten. Ein Kind blieb mir besonders in Erinnerung: Es trampelte tüchtig mit einer Mischung aus Freude und Ehrgeiz in das viel zu grosse Fahrrad an unserem Stand. Kinder sind unsere Zukunft, sie werden sie aktiv mitgestalten, und es ist so wichtig, dass wir sie miteinbeziehen bei unseren Nachhaltigkeits-Gedanken, die schlussendlich ja Zukunftsgedanken sind.

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Am Abend beim Zusammenpacken, hatten an unserem Stand viele Menschen zusammen über 30 km gesammelt, und die Karte war ganz farbig von den vielen Fähnchen, die die Besuchenden hinterlassen hatten. Mein Hals war rau vom vielen Reden mit so vielen verschiedenen Menschen. Gemessen an der Grösse unserer Zukunftsprobleme ist an diesem Tag nicht viel passiert. Und doch wurden ein paar Gedanken angestossen, hier wird ein Gespräch und dort die paar Minuten auf dem Bahnhofsplatz-Velo in Erinnerung bleiben. Und da begannen auch in mir endlich der anfangs so grosse Idealismus und der dazugewonnene Realitätsbezug zu koexistieren.

Wir brauchen beides – denn weder wird die grosse Veränderung morgen um die Ecke kommen, noch bringt es unserer Zukunft etwas, uns selbst in der erdrückenden Realität zu verlieren. Wenn wir es schaffen, den beiden Perspektiven eine Gleichzeitigkeit zuzugestehen, dann wird uns das vielleicht die Energie geben, weiterhin Veränderungen anzustreben.

Und so nehme ich neben viel Kinderlachen und wärmenden Begegnungen mit fremden Menschen vor allem eines mit von diesem Samstag: Der Wunsch nach mehr Koexistenz von Realitätsbezug und Idealismus.