Frau Marañón, sind Sie in der Schweiz integriert?
Ja, ich denke, dass ich integriert bin.
Warum kommen Sie zu diesem Schluss?
Weil ich mit meinem Leben zufrieden bin. Ich fühle mich in Bern zu Hause. Hier ist meine Wohnung und hier sind meine Freunde. Integriert sein, heisst, sich gut zu fühlen. In Genf zum Beispiel fühle ich mich als Touristin. Zürich ist mir etwas näher. Dort habe ich Freunde. In St. Gallen lebt die Familie meines Mannes.
Wie haben Sie ihre Migration in die Schweiz erlebt?
Ich war Chefredaktorin einer Zeitschrift zum Thema Migration in Madrid und wusste, dass ich in der Schweiz neu beginnen müsste. Ich kam der Liebe wegen. Mein Mann konnte in Spanien keine Arbeit als Jurist finden. Ich wusste, dass Migranten, die daran denken, in ihre Heimat zurück zu kehren, weniger glücklich sind. Als ich mich für die Migration entschieden hatte – der Entscheid ist mir nicht leicht gefallen – wollte ich alles tun, um im neuen Land glücklich zu werden. Also lernte ich intensiv Deutsch und baute mir gezielt einen eigenen Freundeskreis auf. Denn ich wollte unabhängig von meinem Mann sein. Ich war aber privilegiert, weil ich es mir leisten konnte, ein Jahr lang nur die Sprache zu lernen.
Was war für die Integration besonders wichtig?
Ich wollte unbedingt eine Arbeit finden, die meinen Qualifikationen entsprach. Sowohl in der Schweiz als auch in Spanien definieren wir uns stark über die Arbeit. Es war frustrierend, nicht in meinem Beruf arbeiten zu können. Dabei musste ich einerseits meine Ziele anpassen – ich hatte keine Chance als Journalistin zu arbeiten – andererseits habe ich viele ehrenamtliche Aufgaben übernommen, etwa die Kommunikation für einen spanischen Frauenverein. Ausserdem machte ich in der Schweiz eine Weiterbildung für Kommunikation in Non Profit Organisationen. Dort fühlte ich mich zum ersten Mal als Migrantin. Denn aufgrund meiner damals noch nicht sehr guten Deutschkenntnisse wurde ich von den Dozierenden unterschätzt.
Wann gilt jemand in Bern als gut integriert?
Für den Staat ist die ökonomische Unabhängigkeit von Migranten und Migrantinnen wichtig. Jemand gilt für sie als integriert, wenn er eine Arbeit hat. Häufig funktioniert die Arbeit auch als Migrationsmotor. Aber das Heimatgefühl ist viel komplexer. Es hat mit Freunden und dem sozialen Umfeld zu tun. Der Migrationsgrund spielt ebenfalls eine Rolle. Integration ist ein Prozess, der von allem beeinflusst wird, was mit dem Alltag und dem Leben zu tun hat. Wer sich in einem neuen Land wohlfühlen will, muss selber viel dafür tun. Aber es gibt kein Rezept. Mitwirkung und Teilhabe spielen eine sehr wichtige Rolle. Jemand gilt als gut integriert, wenn er sich zum Beispiel ehrenamtlich engagiert. Aber ich finde, dass man hier zu viel von Migranten erwartet. Denn längst nicht alle Schweizer engagieren sich für ihre Gesellschaft.
Was soll das Gastland tun, damit sich jemand gut integrieren kann?
Die Gesellschaft muss allen die gleichen Chancen bieten. Nur so gibt es Integration. In Frankreich wurde von Einwanderern lange die Assimilation gefordert. Die Migranten und Migrantinnen sollten die Kultur ihres Herkunftslandes aufgeben und die republikanischen Werte übernehmen. Das funktionierte nicht. England pflegte einen Multikulturalismus. Jeder durfte seine Kultur leben, solange er der Gesellschaft damit keine Probleme bereitete. Das funktionierte auch nicht. Jetzt versuchen viele Länder einen sogenannten Interkulturalismus zu praktizieren. Migranten sollen an der Gesellschaft teilhaben und mitwirken. Sie sollen ihre Kultur leben und einbringen. Doch gibt es Werte und Gesetze, die alle respektieren müssen.
Migranten sollen ihre kulturelle Identität behalten. Doch wie soll das Gastland damit umgehen, wenn diese Identität grundlegenden Werten des Gastlandes widerspricht, wie etwa sehr patriarchalische Traditionen oder das Kastensystem der Tamilen?
Die Gesetze geben den Rahmen vor. Gewalt in der Ehe geht auch für einen Schweizer nicht. Betreffend patriarchalische Traditionen, möchte ich daran erinnern, dass auch die Schweiz noch Nachholbedarf hat – denken Sie nur an die weiter bestehenden Lohnunterschiede. Integration braucht Zeit – vieles verändert erst in der zweiten und dritten Generation. Solche Diskrepanzen sollte eine starke Gesellschaft aushalten können. Manchmal stören sich die Leute aber auch an Dingen, die nicht so wichtig sind, weil sie die Gesellschaft des Gastlandes gar nicht tangieren.
Aber was ist, wenn Migranten die Werte des Gastlandes geradezu negieren, wie es am Silvester in Köln geschehen ist?
Wer sich nicht integrieren will, soll gleich behandelt werden, wie Einheimische, die sich nicht in die Gesellschaft integrieren. Es gibt in jeder Gesellschaft Leute, die Probleme machen. Es gibt auch Schweizer, die ihre Frauen schlagen und demokratische Werte nicht akzeptieren. Wir vergessen oft, dass Migranten und Migrantinnen keine homogene Gruppe sind. Die meisten sind normale Personen, die normalerweise gut sind. Einige sind schlechte Personen, wie überall. Das einzige, was sie gemeinsam haben, ist die Migration. Die meisten Migranten wollen sich integrieren. Wenn man ihnen die Chance dazu bietet, wollen sie diese nutzten.
Köln hat aber gerade schockiert, weil eine Gruppe von Männern mit Migrationshintergrund die Chance, sich zu integrieren, demonstrativ nicht gepackt hat.
Man weiss noch nicht, ob alle diese Männer in Köln Migranten waren, die in Deutschland eine Chance gehabt hatten. Was in Köln geschehen ist, ist krass. Aber das hat mehr mit der patriarchalischen Gesellschaft zu tun, als mit Migration. Sexuelle Belästigung von Frauen gibt es in jeder Gesellschaft. Auch in unserer. Kürzlich habe ich einen Bericht gelesen, wonach jede fünfte amerikanische Studentin Opfer von sexueller Belästigung wird. Amerika ist ein superwestliches Land.
Trotzdem waren es in Köln mehrheitlich Migranten, die sich regelrecht zusammengerottet haben.
Es gibt Bilder von rauschenden Festen in Spanien, wo die Frauen zu Freiwild für spanische Männer und westliche Touristen werden, weil alle so stark betrunken sind.
Vor zwanzig Jahren gab es zwar sexuelle Belästigung, aber das Zusammenrotten junger Männer, die Jagd auf Frauen machen, wie es in Köln der Fall war, ist mir nicht bekannt.
Wenn man das vermeiden will, muss man den Sexismus bekämpfen. Das gehört zu jeder Gesellschaft. Interessant ist, dass nach den Vorfällen von Köln, die Feministinnen sich als erste vom Versuch, alle Migranten zu kriminalisieren, distanziert haben. In Köln hat sich letztlich gezeigt, wohin Desintegration und Ausschluss führen.
Wie aber erreicht eine Gesellschaft Migranten aus patriarchalischen Strukturen, bei denen offenbar ein grosser Nachholbedarf am Umgang mit Frauen besteht?
Der Umgang vieler Schweizer Jungen mit Mädchen und Frauen ist sehr patriarchalisch und gewalttätig. Wir müssen den Sexismus in der ganzen Gesellschaft bekämpfen und nicht bloss bei Migranten. Köln hat den Fokus auf Migranten gelenkt. Gegenfrage: Warum denken Sie überhaupt, dass wir nur Migranten ansprechen müssen und nicht auch Männer, die in der Schweiz geboren und aufgewachsen sind?
Die SonntagsZeitung hat die Statistik der Sexualdelikte der Jahre 2012 bis 2014 ausgewertet. Demnach werden arabische und afrikanische Migranten im Verhältnis zur jeweiligen Grösse der Gruppe bis zu zehnmal häufiger wegen eines Sexualdelikts angezeigt als Schweizer Männer.
Jetzt sind Kurse im Trend, um diesen Männern zu zeigen, wie sie sich verhalten sollen. Dies ist meines Erachtens keine gute Lösung. Damit diskriminieren wir Männer aus bestimmten Regionen. Es ist wichtig, dass wir eine Debatte über die Rolle der Geschlechter führen – mit Migrantinnen und Migranten und in der Gesellschaft allgemein. Wir müssen alle Täter gleich behandeln. Aber es gibt Leute, die die Vorfälle von Köln für fremdenfeindliche Zwecke instrumentalisieren. Für diese Leute ist die Situation der Frauen aber nicht so wichtig.
Viele Schweizer fürchten die Veränderung der Gesellschaft. Welchen Einfluss haben Migranten tatsächlich auf uns?
Migranten und Migrantinnen sind eine Chance für die Gesellschaft. Menschen, die sich entschieden haben, ihre Heimat zu verlassen, sind meistens mutig und aktiv. Flüchtlinge waren in ihrer Heimat oft engagierte Menschen. Deshalb sind sie für eine Gesellschaft interessant. Man spricht immer über die Probleme. Aber gerade in der Schweiz klappt die Integration von Migranten sehr gut. Die Schweiz würde nicht funktionieren, wenn sie ein Problem mit ihren Migranten hätte.