Kirchenfeld: in der demokratischen Zwickmühle

von Sabine Schärrer 24. Juni 2016

Das Schulhaus Kirchenfeld ist aus Quartiersicht ein Beispiel einer demokratischen Zwickmühle. Es braucht mehr Schulraum. Aber: wie gut ist das Projekt? Und was bringt der Einsitz in eine Jury?

Die Ausgangslage ist eindeutig: Bern braucht mehr Schulraum und muss gleichzeitig einen riesigen Unterhaltsrückstand bei den Schulbauten aufholen. Gerade auch in unserem Stadtteil IV, wo in den letzten Jahren erfreulich viele Familien zugezogen sind und sich demzufolge die Kinderzahl stark erhöht hat.

Die Quartierkommission hat dafür aktiv gekämpft und ist nun einhellig erfreut, dass der Schulraumdampfer endlich Fahrt aufgenommen hat. Sogar der in der heiligen Grünzone im Wyssloch / Egelsee geplante Modulbau für 6 Klassen ging ohne eine einzige Einsprache glatt über die Bühne, die neue Turnhalle im Bitziusschulhaus ist im Bau, im ehemaligen Kirchgemeindehaus Burgfeld kann Schulraum gewonnen werden, das Manuel- und das Kirchenfeldschulhaus werden demnächst saniert. So weit so gut, alle sind glücklich. Alle?

Kirchenfeldschulhaus-Projekt gibt zu reden

Das ehrwürdige und denkmalgeschützte Schwestergebäude des grossen Länggassschulhauses, 1890-92 erbaut, soll um 2 neue Normturnhallen, eine Basisstufe und eine Tagesschule erweitert werden. Vor 4 Jahren wurde in einem Architektur-Wettbewerb ein Projekt erkoren, das nach Auffassung der Jury diese Aufgaben am besten erfüllt. Die Verwaltung hat seither das Projekt weiterbearbeitet und jetzt, wo alles ‘pfannefertig’ vorliegt und der Stadtrat das nötige Kleingeld – immerhin 46 Mio Franken – sprechen sollte, regt sich aus verschiedenen Lagern Widerstand. Etliche der kritischen Stimmen kommen aus dem Quartier, was die Quartierkommission zu einer engagierten Diskussion veranlasst. Diese illustriert beispielhaft, wie sich solche demokratischen Meinungsbildungsprozesse von den politischen Rangeleien im Parlament unterscheiden. Hier der Versuch einer Analyse:

Mitgegangen, mitgehangen – ihr wart ja in der Jury dabei!

Stimmt, diesem Argument der Verwaltung, die verständlicherweise nicht erfreut ist über die späte Einmischung und Kritik aus der Bevölkerung, ist nicht zu widersprechen. Aber es ist wichtig, sich zu überlegen, was so eine Jury-Einsitznahme zu leisten vermag und was eben nicht.

• Erstens werden die Nägel mit dem Wettbewerbsprogramm eingeschlagen; es würde also Sinn machen, Quartier, Nachbarschaft und andere Anspruchsgruppen in dieser frühen Phase der Aufgabenformulierung intensiv zu beteiligen. Vielleicht wären einige der heute kritisierten Faktoren (Bedeutung der alten Turnhalle als Lärmriegel, des Sportplatzes als Quartierspielplatz, der alten Bäume als Identitätsfaktor, der Disponibilität der Abwartwohnung, etc.) bereits zur Sprache gekommen.

• Zweitens haben die Jurymitglieder aus dem Quartier den Status von Experten, sind also nicht stimmberechtigt und ihre Meinung wird ausschliesslich für Quartierfragen beigezogen. Das ist soweit ok, aber die Partizipationsorgane sollten dann auch nicht in Mitverantwortung gezogen werden für Entscheide, die mit Quartierthemen nichts zu tun haben. Und hier landen wir beim zweiten, in der Quartierkommission intensiv diskutierten Thema, den sehr hohen Projektkosten.  

Superrenovation oder Massnahmen ‘so gut wie nötig’?

Es gibt Faktoren, die schälen sich erst im Verlauf der weiteren Projektbearbeitung deutlich heraus. Die Kosten gehören in diese Kategorie, sofern nicht auf diesen Punkt bereits im Wettbewerb grösstes Gewicht gelegt wurde, was hier ganz offensichtlich nicht der Fall war. Jedenfalls erhielten die Kostenargumente plötzlich auch in der Diskussion in der QUAV4 grosse Bedeutung. Mehrere anwesende Delegierte aus Bau- und Planungsberufen warnten vor den geplanten sehr grossen Eingriffen wie z.B. einer fast 20 Meter tiefen Baugrube für die beiden unterirdischen Turnhallen unmittelbar vor dem integral zu erhaltenden Altbau. Im Allgemeinen sind Baukosten sicher kein typisches Quartier-Thema, aber vor dem Hintergrund der in unmittelbarer Zukunft notwendigen, grossen Investitionen in das gesamte Schulhausportefeuille eben doch ein berechtigter Anlass zur Sorge.

Wie löst man das Dilemma?

Hitzige Diskussionen folgten zwischen Gegnern des in ihren Augen völlig überrissenen und das alte Gebäude verschandelnden Projekts und der Schul- und Elternfraktion, die ein bedingungsloses Bekenntnis zu allen Schulprojekten coûte que coûte  fordert. Dazu gesellen sich die Fraktionen der Baum- und Denkmalschützer, der Quartierplatzerhalter, der Lärmbefürchter, der notorisch Skeptischen und natürlich der Parteisüppchen-Köche – Chaos! Was nun? Ist die Stellungnahme der Quartierkommission überhaupt berechtigt und glaubwürdig, nachdem wir in der Jury teilgenommen haben? Sollen wir uns noch einmischen – wenn ja, in welcher Form? – oder liegt der Ball nun ohnehin beim Parlament? 

QUAV4 legt das Ei des Kolumbus

Nach und nach beruhigte sich der Tonfall und die Delegierten beschliessen Folgendes: Es ist die Aufgabe der Quartierkommission, die demokratische Meinungsbildung wiederzugeben und korrekt zum Ausdruck zu bringen. Wir tun dies mit einem ‘staatsmännisch’ verfassten Schreiben an den Gemeinderat, das einerseits zum Ausdruck bringt, dass wir grundsätzlich jede Verbesserung der Schulraumsituation begrüssen, das andererseits die Bitte äussert, der Gemeinderat möge doch nochmals die Möglichkeiten einer kostenbewussteren Lösung nach dem Stichwort ‘so gut als nötig’ prüfen. Anschliessend trinken wir zusammen ein Bier im Punto. 

… und fast hätte ich’s vergessen: die Abstimmungen wurden natürlich korrekt protokolliert mit genauer Anzahl der Befürworter und Gegner, damit auch in 100 Jahren die Causa Kirchenfeldschule in ihrer ganzen Tragweite wird durchleuchtet werden können. Im Archiv werden wir auch den anerkennenden Antwortbrief des Gemeinderats dazu heften und der Artikel mit dem ganzen Argumentenkatalog ist in der Quartierzeitung bereits erschienen und online. Soll noch einer sagen, die Quartierkommissionen seien demokratiepolitisch obsolet.