«Kinder wissen genau, was sie wollen»

von Janine Schneider 30. August 2023

Literatur Vor fünfzig Jahren wurde der «Chinderbuechlade» gegründet. Ein Gespräch mit der Buchhändlerin und Inhaberin Ruth Baeriswyl über illustrierte Sachbücher, Political Correctness und weshalb es schwierig ist, für Kinder zu schreiben.

Journal B: Haben Sie als Kind gerne gelesen?

Ruth Baeriswyl: Ich bin in einem fast buchfreien Haushalt aufgewachsen. Wir waren eine Handwerkerfamilie. In der Freizeit hat man geschreinert, genäht oder gestrickt. Lesen hat nur am Rande stattgefunden.

Wie ist die Literatur dann in Ihr Leben gekommen?

Als ich schon jugendlich war, hat mir ein Freund einen Dürrenmatt in die Hände gedrückt. Von da an wurde ich zur leidenschaftlichen Leserin.

Vor 18 Jahren haben Sie den Chinderbuechlade von den beiden Gründerinnen Marie-Louise von Gunten und Leslie Lehmann übernommen und sind noch heute mit Ihnen befreundet. Weshalb haben die beiden Frauen vor 50 Jahren ein Geschäft für Kinderliteratur eröffnet?

Marie-Louise und Leslie waren sehr eng befreundet. Sie haben zusammen die Buchhändlerlehre beim Stauffacher gemacht und über Jahre Kontakt gehalten. Dann kamen die 68er-Jahre, eine Zeit, in der sich auch die Kinderbuchliteratur modernisierte. Das inspirierte sie, diese Buchhandlung zu eröffnen. Ausserdem teilten sie die gleiche Vorstellung, was eine gute Buchhandlung ausmacht.

Wohin soll es gehen? (Foto: Manuel Castellote)
Als Kind keine leidenschaftliche Leserin: Ruth Baeriswyl. (Foto: Manuel Castellote)

Fünfzig Jahre sind eine lange Zeit. Wie hat sich die Kinderbuchliteratur in dieser Zeit verändert?

Sie hat sich natürlich dem modernen Sprachgebrauch angepasst. Was ausserdem sehr auffällt, ist das Genre der illustrierten Sachbücher –  eine Sparte, die sich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren stark entwickelt hat. Es gibt mittlerweile sehr viele gut ausgebildete Illustratorinnen und Illustratoren. Jedes Jahr, wenn wir uns die Neuerscheinungen anschauen, denken wir, das könne man nicht mehr toppen. Und werden im Jahr darauf wieder überrascht.

Eine Diskussion, die in den letzten fünfzehn Jahren ebenfalls aufkam, ist die der Politischen Korrektheit. Was halten Sie davon, Kinderbuchklassiker umzuschreiben?

Einerseits ist es wichtig, ernst zu nehmen, wie es den Betroffenen geht. Was macht es mit einem dunkelhäutigen Kind, wenn in einem Klassiker das N-Wort vorkommt? Gleichzeitig ist der Text gar nicht so wichtig, sondern, wie die Kinder und Erwachsenen damit umgehen. Kindern ist viel mehr zuzutrauen, als man denkt. Wir können sie nicht vor allem schützen. Aber wir können und sollten ihnen alles erklären.

Enea Rüfenacht macht die Buchhandellehre im Chinderbuechlade. (Foto: Manuel Castellote)
Manches Kind bleibt hier hängen. (Foto: Manuel Castellote)

Hat sich in diesen 50 Jahren auch Ihr Publikum verändert?

Nein, es ist eigentlich immer noch so, dass die Kinder relativ genau wissen, was sie wollen. Und die Eltern lassen das manchmal zu und manchmal nicht. Aber so war das schon vor zwanzig Jahren.

Jule Dermon (verfolgt von der Ladentheke das Gespräch und schaltet sich ein): Aber ich finde, es ist insgesamt ein bisschen bunter geworden. Ein bisschen offener, experimentierfreudiger.

Was macht für Sie gute Kinderliteratur aus?

Sie soll Welten eröffnen. Sie soll den Kindern helfen, sich auf ein Thema einzulassen und dranzubleiben. Aber unbedingt auch unterhalten und lustig sein. Sich amüsieren, Sprachwitz verstehen – das ist alles pädagogisch wertvoll.

Im Literaturbetrieb wird Kinderliteratur oft nicht ernst genommen und in die Ecke gestellt.

Ja, das nervt uns total. Auch bei vielen Tageszeitungen kommen die Rezensionen, wenn es denn überhaupt mal welche gibt, häufig sehr unglücklich heraus. Das Interesse dafür ist gering und man gibt der Kinderliteratur zu wenig Platz. Dabei ist es sehr viel schwieriger, für Kinder zu schreiben! Sie lesen das Buch nicht fertig, wenn es langweilig ist. Die Autor*innen müssen sich am Alter orientieren, was die Länge der Sätze und des Plots betrifft. Das ist wirklich anspruchsvoll.

Zum fünfzigsten Geburtstag haben sie sehr viel Post von begeisterten Leser*innen erhalten. (Foto: Manuel Castellote)

 

Viele kleine Buchhandlungen mussten in den letzten Jahren schliessen. Sie hingegen wurden 2018 zur Buchhandlung des Jahres gekürt (Journal B berichtete). Wie machen Sie das?

Indem wir uns mit einem sorgfältig kuratierten Sortiment profilieren. Aber manchmal ist es trotzdem fast ein Stigma, dass wir «Chinderbuechlade» heissen. Viele haben deswegen das Gefühl, wir könnten nichts anderes, obwohl man bei uns alles bestellen kann.

Macht Ihnen auch der Onlinehandel zu schaffen?

Tatsächlich sinkt die Ladenfrequenz jedes Jahr um ein bis zwei Prozent. Daran ist wahrscheinlich der Onlinehandel schuld. Auf der anderen Seite läuft unser Onlineshop besser als früher. Aber für einen kleinen unabhängigen Laden ist alles Branchenfremde eine Herausforderung. Wir sind Vollblut-Buchhändlerinnen und keine IT-Spezialistinnen. Am liebsten möchten wir uns auf unser Kerngeschäft – nämlich die Inhalte von Büchern – konzentrieren.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Chinderbuechlade und der Kinderliteratur allgemein?

Was natürlich super wäre: Wenn wir noch einmal Buchhandlung des Jahres würden! Für uns war es wahnsinnig bestärkend, diesen Preis zu erhalten. Und was die Kinderliteratur angeht, hoffe ich, dass es bald keine Rolle mehr spielt, wie ein Kind aussieht oder woher es kommt. Es sollte einfach normal sein, dass in jedem Buch Beeinträchtigte und Kinder mit Migrationsgeschichte vorkommen.  Unser Regal mit «diversen» Kinderbüchern möchten wir irgendwann wieder abschaffen können.

Für Kinder und Erwachsene da. Enea, Jule und Ruth vom Chinderbuechlade. (Foto: Manuel Castellote)