«Keine der beiden Strömungen bildet die ganze Wahrheit ab»

von Mireille Guggenbühler 4. Januar 2022

Die Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie (UPD) hat 50 Prozent mehr Patientinnen und Patienten als vor der Coronapandemie. Jugendliche verlören die Perspektive, sagt Chefarzt Jochen Kindler. Angsterkrankungen nähmen zu. Auch Depressionen, Selbstverletzungen und gar Suizidalität.

Herr Kindler, Kinder- und Jugendpsychiatrieangebote sind komplett ausgelastet. Welches sind die Gründe dafür?

Jochen Kindler: Wir erleben bereits seit 15 Jahren eine stetige, leichte Zunahme der Inanspruchnahme der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Seit der zweiten Coronawelle im Herbst 2020 ist nun eine nochmals deutlich darüber hinaus gehende, abrupte Zunahme passiert.

Was heisst das konkret?

Wir haben zirka 50 Prozent mehr stationäre Patientinnen und Patienten im Vergleich zu vor Beginn der Pandemie. Vor allem unser Notfallzentrum und die Jugendstationen sind seit über einem Jahr völlig am überlaufen.

Inwiefern steht dies im Zusammenhang mit Corona?

Wir gehen davon aus, dass es zu psychischen Symptomen kommt, wenn die äusseren Belastungsfaktoren die Ressourcen eines Menschen übersteigen. Das kann dann der Fall sein, wenn eine Belastung besonders schwer ist und besonders lange dauert. Die coronabedingten Massnahmen wie Schulschliessungen, Einschränkungen von Freizeitangeboten, aber auch die Angst zu erkranken, andere anzustecken sowie die Ungewissheit, wie lange die Pandemie noch dauert, haben das Stresslevel deutlich und vor allem für eine sehr lange Zeit gehoben. Wir vermuten hier einen Zusammenhang mit der Zunahme der behandlungsbedürftigen Kinder.

Gibt es aufgrund der momentanen Situation Neuerkrankungen oder verstärkt diese bestehende Probleme bei Kindern und Jugendlichen?

Beides. Einerseits verursacht die Pandemie Ängste und Unsicherheiten, andererseits verstärkt sie solche auch, wobei hier unterschiedliche Altersgruppen differenziert werden müssen. Kleine Kinder können die Situation kognitiv noch nicht voll erfassen. Sie spüren aber die Angst und den Stress der Erwachsenen und reagieren darauf. Es kann deshalb zu Schlafstörungen, Verhaltensauffälligkeiten oder Entwicklungsrückschritten kommen. Kinder ab 5 bis ungefähr 12 Jahre berichten vor allem über die Angst, ältere (Risiko-)Personen wie Grosseltern anzustecken. Jugendliche zwischen 12 und 18 Jahren haben schliesslich Angst, wertvolle Zeit mit ihren Gleichaltrigen zu versäumen und sie haben Angst um ihre Zukunft und ihre Ausbildung. Sie verlieren die Perspektive. Gerade für diese Gruppe fällt die Pandemie in die Zeit der Ablösungsphase von den Eltern. Natürlicherweise würden sie sich in dieser Zeit hinausbewegen, hin zu ihren Freunden – diese Bewegung ist aber durch die Coronamassnahmen eingeschränkt. Schwelende Konflikte zwischen Kind und Eltern, aber auch unter den Eltern, können weniger gut abgefedert werden und wirken sich schliesslich negativ auf die Jugendlichen aus. In dieser Altersgruppe stieg die Behandlungsbedürftigkeit am stärksten an. Unsere Daten zeigen, dass besonders jene Jugendlichen betroffen sind, die bereits vor der Pandemie vulnerabel waren.

Welches sind denn die häufigsten Krankheitsbilder zurzeit?

Wir sehen ungefähr ab dem 12. Lebensjahr eine deutliche Zunahme von Angsterkrankungen, Depressionen, Selbstverletzungen bis hin zur Suizidalität und psychosomatischen Erkrankungen wie vor allem Essstörungen. Gerade die beiden Letztgenannten beschäftigen uns seit Herbst 2020, also seit der zweiten Coronawelle, ganz besonders.

Fachpersonen aus dem Schulbereich beobachten vereinzelt auch eine Zunahme von Gefährdungsmeldungen – inwiefern destabilisiert die momentane Krise ganze Familiengefüge?

Der Grossteil der Familien meistert die Situation gut. Wir sehen aber, dass sich die Lage – nicht ausschliesslich, aber verstärkt – für sozial benachteiligte Familien zuspitzt. Sie haben zu Hause weniger Platz, die Eltern sind weniger oft im Homeoffice und können daher weniger gut unterstützen. Die Eltern haben Angst um ihre Jobs und in manchen Fällen fehlt es an technischen Geräten wie Laptops, um zumindest digital mit anderen im Austausch zu bleiben. Die Schere zwischen bildungsnahen und benachteiligten Schichten – in Bezug auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler – ist in den letzten eineinhalb Jahren aufgegangen. Das heisst: In den Familien, in welchen bereits vor der Pandemie ein ungünstiges Verhältnis zwischen Ressourcen und Belastungsfaktoren vorhanden war, kommt es ver mehrt zu Schwierigkeiten. Der Ort, an dem dies nun besonders auffällt, ist die Schule – deshalb haben Schulen eine immens hohe Wichtigkeit. Einerseits, weil Probleme dort offensichtlich werden, andererseits aber auch, weil dort ein Ausgleich stattfindet durch die Interaktion mit anderen Kindern und Erwachsenen. Wenn nun von dort vermehrt Gefährdungsmeldungen erfolgen, ist das wenig verwunderlich. Die zentrale Frage ist, wie man die Schulen weiter unterstützen kann, vor allem in ihrer ausgleichenden Funktion.

Jugendliche äussern sich zum Teil besorgt über die zu beobachtende Spaltung der Gesellschaft betreffend der Coronamassnahmen. Wie wirkt sich diese Spaltung auf Kinder und Jugendliche aus?

Wir beobachten die Spaltung der Gesellschaft, die in den letzten Monaten passiert ist, mit grosser Sorge. Ich selber bin ein Befürworter der Impfung, aber ich halte es für unumgänglich, mit Menschen, die anders darüber denken, im Dialog zu bleiben. Bei der Spaltung tritt eine Seite mit der anderen nicht mehr in Kontakt, es findet keine Kommunikation mehr statt und der andere Teil wird ausgegrenzt. Es wird also zu einem Kampf von «gut gegen böse». Die eigene Position bleibt dabei immer subjektiv. Ich bin kein Politiker und kann daher über gesamtgesellschaftliche Entwicklungen keine Aussage machen, aber darüber, was auf einer kleineren Ebene passiert. Innerhalb einer Familie, einer Zweierbeziehung oder sogar in jedem Einzelnen von uns kommt es zur psychischen Destabilisierung, wenn sich eine Seite mit der anderen nicht mehr austauscht, die einzelnen Teile nicht mehr miteinander in Kontakt treten und die Dialektik verloren geht. In der Psychotherapie versuchen wir, die Kommunikation zwischen Familienmitgliedern, im Grunde aber auch von unterschiedlichen inneren Anteilen innerhalb einer Person, möglichst aufrechtzuerhalten, um psychische Symptome zu behandeln oder ihnen vorzubeugen. Wir gehen also den genau umgekehrten Weg, den unsere Gesellschaft zu nehmen scheint. Und ich hoffe natürlich, dass unsere Kinder die Spaltungstendenzen nicht übernehmen.

Wie verarbeiten besonders sensible Kinder und Jugendliche diese Spaltungstendenzen?

Sensible junge Menschen suchen Bewältigungsstrategien, indem sie sich beispielsweise einer Richtung anschliessen, gleichzeitig aber merken, dass keine der beiden Strömungen die ganze Wahrheit abbilden kann. Oder sie schliessen sich keiner Richtung an und fallen quasi zwischen Stuhl und Bank und haben keine Orientierung mehr. Grössere Sorgen mache ich mir allerdings um die «Unsensiblen», denn auch mit diesen Kindern macht die Situation etwas. Diese beginnen beispielsweise zu mobben. Ich denke da insbesondere an Problemfelder wie Cybermobbing, die in den letzten Jahren an Fahrt aufgenommen haben.

Eine solche Krise, wie wir sie momentan haben, dürfte das Selbstbild, aber auch das Weltbild von Kindern und Jugendlichen nachhaltig prägen.

Übergeordnet denke ich, dass es wohl zutrifft, dass Menschen an Krisen reifen können – wichtig ist, dass wir aber darauf achten, dass unsere Kinder und Jugendlichen nicht daran zerbrechen. Jene mit gutem Selbstvertrauen kennen sowohl ihre eigenen Stärken als auch ihre Schwächen und können sie zulassen. Ihnen ist bewusst, dass sie mit Anstrengung etwas erreichen können und sie können auch mit den negativen Seiten des Lebens umgehen. Sie sind also widerstandsfähig. Gerade jüngere Kinder bringen die wichtigsten Anlagen genuin mit, um die Zukunft bestens meistern zu können: Sie sind wissbegierig, sozial, lösungsorientiert, kreativ und begeisterungsfähig. Eltern, die zuhören, sich auch dafür die notwendige Zeit nehmen und die ihre Kinder in Stärken und Schwächen akzeptieren, geben dem Kind das Gefühl, angenommen zu sein. Dieses Gefühl kann das Kind später übernehmen. Dies betrifft auch das Weltbild der Eltern. Ein Weltbild, das den Fokus auf die positiven Dinge des Lebens richtet, ohne die negativen völlig zu ignorieren, ist in solchen Krisenzeiten sicher förderlich. Jugendliche und junge Erwachsene haben heute Angst, wichtige Zeit in ihrer Ausbildung aufgrund der Pandemie zu verlieren. Sie wünschen sich Orientierung, ohne aber Zwang aufgesetzt zu bekommen. Wir sollten den Leistungsdruck daher nicht noch zusätzlich erhöhen, sondern Sicherheit vermitteln. Am eigenen Beispiel können wir eine Möglichkeit aufzeigen, wie die Zukunft gemeistert werden kann, ohne aber Zwang auszuüben, dass dies die einzige Lösung darstellt.

Was können Erwachsene tun, damit Kinder und Jugendliche trotz der Umstände in einem gesunden, angstfreien, nährenden Umfeld aufwachsen können?

Bei all dem Negativen, das passiert, sollten wir stets auch die positiven Seiten des Lebens betonen. Wichtig ist es auch, über Gefühle zu sprechen. Wir sollten unsere Kinder ermutigen, sich jemandem anzuvertrauen. Das funktioniert am besten, indem wir Erwachsenen den ersten Schritt tun und über unsere eigenen Gefühle sprechen. Wenn es einem Kind offensichtlich nicht gut geht, soll dies möglichst angesprochen werden. Kinder und Jugendliche brauchen, entgegen der weit verbreiteten Annahme, gerade auch in schwierigen Zeiten eine Tagesstruktur und einen Rhythmus, um nicht unterzugehen. Strukturen nehmen Stress und Angst. Die Tagesstruktur ging im Laufe der Pandemie bei vielen Kindern verloren oder ist stark beeinträchtigt worden. Hier braucht es Erwachsene, die mithelfen, wieder geregelte Abläufe und Routinen zu errichten. Untersuchungen zeigen, dass sich ein Teil der Kinder deutlich weniger bewegt seit Beginn der Pandemie. Es ist daher empfehlenswert, gemeinsame Aktivitäten mit der Familie in der Natur zu planen. Dies verbindet, man erlebt etwas gemeinsam und wird körperlich fit. Ein Punkt, der wichtig wäre, den die Eltern aber nicht selbst umsetzen können, ist das Offenhalten der Schulen. Die Schulen sollten aber auch adäquat unterstützt werden in ihrer Rolle.

Dieses Interview erschien ursprünglich im Berner Landboten.