Kein Kahlschlag und kein «Weiter so»

von Christoph Reichenau 2. September 2020

Zur Ausstellung «Ausnahme-Zustand» über die Folgen der Corona-Pandemie für unsere Demokratie und Gesellschaft führt das Polit-Forum Bern im Käfigturm eine Reihe von Podiumsdiskussionen durch. Die jüngste war der Kultur gewidmet.

Es war ein ergiebiges und gut besuchtes Podiumsgespräch zur Frage «Wie verändert sich Kultur in der Krise und wie die gesellschaftliche Praxis im Umgang mit Kultur?» Nähme man die Frage wörtlich, wäre die Antwort rasch gegeben: Kulturveranstaltungen gibt es kaum, die Kunst erprobt digitale Formen, diese werden von zu Hause genutzt, aber für seltene Live-Anlässe ist das Publikum rar. Fazit: Ein sonderbarer Zustand zwischen dem ehedem Bekannten und dem herbeigesehnten Neuen, das niemand kennt.

Zum Glück machte Moderatorin Gisela Feuz, Musikerin und Journalistin, aus der einen grossen Frage viele kleine, konkret und präzise, die sie den Teilnehmenden direkt stellte. Deren Antworten, manchmal auf den Punkt, zuweilen ausschweifend, erlaubten dem zahlreichen Publikum Blicke in den Alltag von Kulturschaffenden, Kulturinstitutionen und Förderstellen während eines halben Jahres Ausnahmezustand, der noch lange andauern wird. 

Auf dem Podium: Anneli Binder, Geschäftsleitung Dampfzentrale, Philippe Bischof, Direktor der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, Raphaël Brunschwig, Chief Operating Officer Locarno Film Festival, und Andreas Ryser, Mouthwatering Records und Präsident des Verbands unabhängiger Musiklabels und -produzent*innen IndieSuisse. Ihre Aussagen werden hier nicht protokolliert, sondern nach Themen und Fragen zusammengefasst.

Unterstützung

Die finanzielle Unterstützung zur Abfederung der Corona-Folgen, die Bund und Kantone im Kulturbereich zusätzlich zur Entschädigung von Kurzarbeit, zu Liquiditätshilfen sowie Entschädigung für Selbständigerwerbende aufgrund von Notrecht rasch im Umfang von zusammen 300 Millionen bereitstellten und vor kurzem verlängerten, ist nur mit grossem administrativem Aufwand zu ergattern. Für eine Band mit Musikern aus drei Kantonen, die teils in Form einer GmbH organisiert, teils angestellt, teils selbständig erwerbend sind, kann die Ausfallentschädigung bis zu 30 Gesuche bedingen, die auf komplizierten Formularen einzugeben sind. Die übersichtliche und einfach gehaltene Website von Kultur Stadt Bern ist ein guter Wegweiser durch das Dickicht ebenso wie durch die Lücken des «normalen» Arbeits- und Sozialrechts, das in der Krise auf die Probe gestellt wird.

Digitalisierung

Auf dem Podium besteht Einigkeit: Was Walter Benjamin in vor-digitaler Zeit die «Aura» eines Kunstwerks genannt hat (im Aufsatz «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit», 1936), ist auch digital nicht herstellbar – die menschliche Nähe, die Fundierung im Ritual, die Einzigartigkeit. Über das Internet kann Kunst zugänglich gemacht werden, jederzeit und überall, doch um den Preis der Einengung auf Zweidimensionalität, des Verzichts auf den lebendigen Funken.

Die Frage: Hat die Kulturszene die Digitalisierung verschlafen, ist deshalb falsch gestellt. Das unmittelbare Erlebnis, die Vorbereitung und Vorfreude darauf, die Anteilnahme inmitten anderer, das anschliessende Reden darüber und das Nachsinnen über das Diskutierte – das macht die gesellschaftliche, ja die politische Bedeutung «der Kultur» aus. Diese Bedeutung ist digital nicht herstellbar. Sie verlangt die Präsenz von Menschen an einem Ort. Ist diese nicht möglich, ist Kultur nicht möglich. Alles andere ist Ersatz und gerade das will Kultur nicht sein.

Natürlich ist die Welt nicht schwarz-weiss, selbstverständlich ist zuweilen ein Surrogat besser als nichts, und klar sind einzelne Kunstsparten besser geeignet für die individuelle Anverwandlung (etwa die Literatur), doch letztlich und im Ganzen ist nur öffentlich zugängliche Kunst Kunst. Die Öffentlichkeit jedoch ist seit dem Ausbruch der Corona-Krise eingeschränkt und gefährdet. Die Wirkung von Kunst ist sistiert. Fehlt sie den Leuten? Muss man alles tun, um sie – unter Einhaltung der Corona-Regeln – wiederzubeleben? 

Publikum

Am Anfang August ohne die Nächte auf der Piazza Grande durchgeführte Filmfestival Locarno kamen die Leute zahlreich zu den rund hundert Filmvorführungen in Kinosälen. Für 2021 rechnet man, dass das einzigartige Erlebnis der Filmnächte unter freien Himmel mit eingeschränkter Platzzahl wieder möglich werden kann. Allzu lang dürfe das Highlight des Festivals nicht abgesperrt bleiben.

«Kahlschlag»

Droht nun ein Kahlschlag in der Präsenz-Kultur, sind die Kulturorte gesamthaft in Gefahr? Jein. Niemand sieht Personen und Kräfte am Werk, die absichtlich die Axt an den Stamm legen. Doch alle haben mehr oder minder grosse Befürchtungen, dass Kultureinrichtungen die Krise nicht überstehen, denn zu klein sind die Reserven und die Margen, zu gross die Abhängigkeit von zahlenden Besucher*innen, zu kurz wahrscheinlich die Bereitschaft und die Möglichkeit der öffentlichen und privaten Förderstellen, Abfederungsmassnahmen zu finanzieren. Eine Ausdünnung ist wahrscheinlich: Weniger Orte, weniger Angebote, weniger Publikum.

Produktion und Recherchen

In dieser Lage fragt es sich, ob die heutige Fokussierung der Förderung auf konsumierbare künstlerische Produkte – Konzerte, Bücher, Filme, Tanzaufführungen, Theaterproduktionen – weiterhin richtig ist. Oder ob dem Weg dorthin mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung zukommen sollte: der Recherche, dem Nachdenken, dem Prozess der Umsetzung von Gedanken und Szenen und Töne und Bilder. Das Migros-Kulturprozent nennt diese künstlerische Schaffensphase neuerdings «Ideation»: eine vorgelagerte Phase der Recherche und Materialsammlung, in der künstlerische Ideen entwickelt, Vorhaben vorbereitet, überprüft, aber auch verworfen und neu gedacht werden können und müssen; erst anschliessend und ohne zwingende Folge kommt mit der «Diffusion» die Phase, in welcher das Ergebnis dem Publikum präsentiert wird. Die Zweiteilung würde zu weniger aufführbarer und «konsumierbarer» Kunst führen, aber – gemessen an der verfügbaren Zeit – vielleicht zu besserer, ausgereifterer Kunst.

Da einige Kulturförderstellen, etwa Pro Helvetia oder die Burgergemeinde Bern, Projekte unterstützen, deren Aufführung keineswegs gesichert ist, besteht derzeit faktisch und ungeplant ein solcher Zustand. Sehr zur Freude mancher Kulturschaffender, auch wenn dies eher der Not entspringt (Aufführung nicht sicher) als bewusstem Umdenken. Krisenhilfe als «gute» neue Normalität?

Systemrelevanz

Für alle auf dem Podium ist klar: Kultur ist «systemrelevant» in dem Sinn, dass sie in der Krise Unterstützung benötigt und verdient. Allerdings bedeutet dies nicht, dass die Kulturschaffenden einfach so zu einem System gehören wollen, das ihnen fremd ist bzw. das sie ablehnen. Sandra Künzi, Präsidentin des Verbands Theaterschaffende Schweiz und höchst engagierte Vertreterin der Bedürfnisse und Anliegen der Kulturszene gegenüber den Behörden, hat in einem Interview vor Kurzem erklärt: «Mit geht das Wort systemrelevant so was von auf den Wecker. Relevant für welches System? Ein Wirtschaftssystem, in dem Gewinn das oberste Ziel ist? In dem das überholte BIP für Wohlstand steht? (…) Da wundert es mich nicht, dass der Bundesrat sagt, Kultur sei für dieses Wirtschaftssystem nicht relevant.» Sandra Künzi sprach damit aus, was sehr viele Kulturschaffende denken und worin sie recht haben. Denn Kultur ist – und war schon immer – auch ein Frühwarnsystem für Unstimmigkeiten in der Gesellschaft, in der Wirtschaft und im Staat, also eigentlich ein Gegensystem.

Lobby der Kultur

Hat Kultur eine starke Lobby in der Politik, in der Wirtschaft? Kann sie ihre Interessen gut vertreten? Kann sie sich Gehör verschaffen und letztlich durchsetzen bei denen, die Entscheidungen treffen und Geld sprechen? Und: Gibt es da «die» Kultur? Gibt es nicht eher zahlreiche Kulturszenen, Kulturwelten, deren Lebens- und Arbeitswirklichkeit sehr unterschiedlich sind und die nur schlecht unter ein Dach passen? Zwischen einem internationalen Filmfestival, der Dampfzentrale Bern und einer Rock- und Pop-Band gibt es grosse Unterschiede.

Die Auffassungen über die Wirksamkeit des Lobbyierens sind geteilt. Die einen erleben, dass «die Politik» zuhört und ernsthaft diskutiert; andere finden, es gelinge ihnen nicht genügend, die Arbeits-, Lebens- und Überlebensbedingungen Kulturschaffender einsehbar zu machen. 

Wie weiter?

Richtig erscheint, dass zuerst «der Kultursektor», also die Gesamtheit der festen Einrichtungen, Ensembles, freien Kulturschaffenden und ebenso der Kunstausbildungen und der Urheberrechtsgesellschaften in gemeinsamer Diskussion den Förderbedarf ermittelt und die Massnahmen definiert. Das Paket sollte anschliessend mit den Förderstellen der Städte, Kantone und des Bundes besprochen werden, arbeitsteilig auch mit den privaten Unterstützern, meist Stiftungen und Unternehmungen. Idealerweise übernehmen im Sinne der Subsidiarität die Städte den Lead, da sie den grössten Anteil der Förderung finanzieren und am nächsten bei den Kulturschaffenden sind.

Bei der Diskussion darf es keine Tabus geben. Man wird fragen, wie berechtigt die hohen Subventionen an die bestgestellten Opernhäuser, Symphonieorchester, Theater und Museen sind, die zu öffentlichen Beiträgen von 200-300 Franken pro Sitz und Veranstaltung führen – und die dennoch dem Publikum beträchtliche Billettkosten anfordern. Man wird über das Verhältnis der hochsubventionierten Häuser und den sogenannten freien Gruppen gehen. Man wird erkunden, welcher Anteil der Förderung in die Recherche, die kreative Vorarbeit, die «Grundlagenforschung» im Bereich der Kunst fliessen soll (die «Ideation» gemäss Migros Kulturprozent) und welcher in die anschliessende Kreation von Werken (die Diffusion). Man wird das Verhältnis zwischen jungen, arrivierten und alten Kunstschaffender ins Auge fassen: Bei kontinuierlich wachsender Zahl gut ausgebildeter KünstlerInnen, aber praktisch gleichbleibenden Fördermitteln, wächst die Konkurrenz. Folglich drängen sich Überlegungen zur schärferen Auswahl auf, die sich auf die «Karrieren» und Berufsbiographien stark auswirken können. Man wird die Bedeutung der Kreativwirtschaft einschätzen müssen, jenes Bereichs an der Nahtstelle von Kultur und Wirtschaft, künstlerischer Gestaltung im weiteren Sinn und praktischem Nutzen.

Und man wird über die Arbeitsbedingungen sowie die Einkommen im Kultursektor reden müssen. Und über die Lohnunterschiede zwischen den eigentlich künstlerisch Tätigen und dem Überbau der Intendanzen und Dirigent*innen, zwischen den «normal» angestellten und den solistischen Gaststars – und dies in allen Sparten und Bereichen. Die Kulturschaffenden aller Sparten sollen ja soweit wie möglich vom Ertrag ihrer künstlerischen Arbeit leben können. Die Kulturförderung soll nur ergänzend und anschiebend nötig sein. Diese Maxime bedingt eine systematische Politik der Wertschätzung und Abgeltung der künstlerischen Arbeit durch deren Nutzerinnen und Nutzer. Stichwörter: Angemessene Gagen und Honorare, Abgeltung der Nutzung urheberrechtlich geschätzter Werke (Kreation ist nicht gratis), Verpflichtung der Kulturschaffenden und ihrer Arbeitgeber (etwa in Subventionsverträgen) bzw. Unterstützer zu Abgaben an die Sozialversicherungen, Berücksichtigung der unterschiedlichen Arbeitsverhältnisse sowie der unregelmässigen Arbeitsentgelte im System der sozialen Sicherheit, auch in der Arbeitslosenversicherung. Der Satz des Bundesrats, «Geprüft werden Anreizsysteme und Empfehlungen für Veranstalter und Institutionen, den Künstlerinnen und Künstlern angemessene Honorare und Entschädigungen auszurichten» in der aktuell vom Parlament behandelten Kulturbotschaft 2021-2024 ist schwach und entspricht dem Ernst der Lage nicht.

Man wird, in einem Satz, nicht um einen neuen Bericht Clottu herumkommen, 45 Jahre nach dessen Erscheinen, einen umfassenden, gründlichen, vorausschauenden Plan. Für die Kultur. Für uns alle.

Erstes Fazit

Jetzt sind dem Berichterstatter die Rosse durchgegangen, die Gedanken enteilt. In Wahrheit ging die Diskussion auf dem Podium nicht ganz so weit. Aber ist es nicht ein gutes Zeichen, wenn sie das Weiterdenken anregt?

Zurück in den Käfigturm am Mittwochabend. Die Frage war. Wie verändert sich Kultur in der Krise und wie die gesellschaftliche Praxis im Umgang mit Kultur? Eine erste holzschnittartige Antwort der Teilnehmer*innen: «Die Kultur» verändert sich auf Seite der Macher*innen hin zum Digitalen, zum Reflektieren, zum Planen ohne Gewähr; sie brennt darauf, zu den gewohnten Präsenzformen zurückkehren zu können – und sie fürchtet sich davor, dass sich über die Digitalität die falsche Mentalität verstärkt, Kunst sei gratis. Auf Seiten des Publikums, der interessierten Bevölkerung herrscht einerseits Vorsicht vor gegenüber Anlässen; andererseits wird intensiv gelesen, Netflix genutzt, Musik gehört. Den Ausweg aus der Krise gibt es nicht. Aktuell unerlässlich sind viele Unterstützungen, unbürokratisch, schnell. Langfristig nötig ist eine Überprüfung des gesamten Systems der Kulturförderung: Gemeinsam, gründlich, schonungslos im Umgang mit dem Herkömmlichen. Wann, wenn nicht jetzt?