Kann Planung gerecht sein?

von Dario Sciuchetti 1. September 2021

Zersiedelung, unwohnliche Städte, versiegelte Böden, unzugängliche See- und Flussufer: die Liste der Planungssünden ist lang. Und der Ruf nach einer besseren Raumplanung schnell zur Hand. Aber was kann Raumplanung?

 

Sabine Schärrer, Diplomierte Architektin ETH, war jahrelang Geschäftsführerin von Quav4, der Quartiervertretung für den Stadtteil 4. Sie engagierte sich unermüdlich für eine wohnliche Stadt. Das folgende, leicht gekürzte Interview hat Dario Sciuchetti von «Collage», der Zeitschrift für Raumentwicklung, mit Sabine Schärrer geführt. Am 14. September erhält Sabine Schärrer für ihre Verdienste in Bern den Emma-Graf-Preis.

Gerechtigkeit ist ein zentraler Wert in der Raumplanung. Was verstehen Sie unter einer «gerechten Planung»?

Sabine Schärrer: Eine gerechte Planung würde dafür sorgen, dass das nicht vermehrbare und äusserst ungleich verteilte Gut Boden so gut als möglich allen Bürger*innen zur Verfügung steht. Gerechte Planung ist demnach ein utopischer Anspruch und ein hochpolitischer Begriff. Obwohl nicht vermehrbar und nicht dislozierbar, ist der Boden praktisch frei handelbar und somit der kommerziellen Marktlogik unterworfen. Wer Land besitzt, mit Vorteil an begehrter Lage, vermehrt ohne weitere Anstrengung seinen privaten Reichtum.

Sie sprechen einen Grundpfeiler des Schweizer (Planungs-)Verständnisses an.

Schweizer Kindern wird früh mit Monopoly eingeimpft, wie man am Immobilienmarkt erfolgreich abzockt. Ich erinnere mich noch, wie empört ich war über die Zweitklassigkeit «unseres» formidablen LoebEgge gegenüber Grundstücken an der Zürcher Bahnhofstrasse. Heute mögen sich die Präferenzen am Immobilienmarkt verschoben haben, pandemiebedingt sind weder Büros noch Hotels Topscorer; und auch einst rentabelste Einkaufszentren kämpfen ums Überleben. Das Mantra aber der Investoren und Banker «Lage, Lage, Lage» gilt mehr denn je und die Abzockerei mit dem eigentlichen Gemeingut Boden nimmt zu, je unsicherer die Zeiten scheinen, desto heftiger.

Haben die rund fünfzig Jahre Raumplanungsgesetz also nichts bewirkt?

Wer heute mit kritischem Blick die Schweiz bereist, muss sich das tatsächlich fragen. Wäre alles noch viel ungerechter und noch viel erratischer organisiert? Vielleicht hat die geltende Raumplanung ja das Schlimmste verhindert, viel mehr aber sicher nicht.

Raumplanung kann heute gar nicht gerecht sein, denn sie muss sich an die festgelegte Ordnung der privaten Eigentumsverhältnisse halten. Die Politik setzt Recht und fällt Entscheide, getrieben durch die Interessen einer Lobby von Versicherungs-, Banken-, Bau- und Immobilienvertreter*innen. Privates Grundeigentum sichert private Profite, von denen wir alle ironischerweise als Pensionskassenbezüger*innen profitieren. Ein grundsätzlich ungerechtes Bodenrecht streut seine Profit-Brosamen so, dass es sich alle im bestehenden System mehr oder weniger gemütlich eingerichtet haben, Änderungen also umso schwieriger anzugehen sind.

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Wo sehen Sie Möglichkeiten für Änderungen?

Das Bodenrecht lässt sich mit demokratischen Mitteln an der Urne kaum ändern. Da die heilige Kuh privates Grundeigentum also wohl nicht so rasch geschlachtet werden kann, sollte man sie wenigstens gebührend und im öffentlichen Interesse melken. Dabei meine ich nicht nur die meiner Ansicht nach viel zu zaghaften Ansätze zur Mehrwertabschöpfung, sondern einen viel grundsätzlicheren Deal zwischen privaten Eigentümer*innen und der Öffentlichkeit. Wer quasi Boden auf Ewigkeit besitzt, soll auch Verantwortung übernehmen für dessen Zukunft im Sinne des öffentlichen Interesses.

Was schlagen Sie vor?

Anreizsysteme müssten diejenigen belohnen, die sich der Nachhaltigkeit im gesamten Planungs- und Bauprozess verpflichten, zum Beispiel mittels höherer Ausnützung oder steuerlichen Vergünstigungen. Dabei wäre der Fokus nicht nur auf die Ballungsräume zu richten, sondern gerade auch auf die peripheren Regionen und Gemeinden, wo zum Teil durch die neue Flucht aufs Land unabsehbare Veränderungen anstehen, die zur Multiplikation der alten Planungsfehler führen.

Nachhaltige Bodenpflege hiesse nicht nur die aktuell diskutierte Pestizidfreiheit und Förderung der Biodiversität der grünen Flächen, sondern auch eine nachhaltige soziale Bewirtschaftung im Interesse von uns wohnenden, arbeitenden, konsumierenden, Freizeit verbringenden Bürger*innen. Der Staat sollte deshalb über die Raumplanung alle natürlichen Ressourcen, gerade auch den Boden, vor weiterer Privatisierung schützen. Das hiesse: möglichst viel Grund und Boden in öffentlich nutzbaren Besitz zurückführen und wo immer möglich volle öffentliche Zugänglichkeit sichern, auch von privaten Grundstücken. Gewinne bei Grundstückshandel sollen zu einem weit höheren Mass als heute zum Nutzen Aller umverteilt und das Eigentum mit Auflagen für eine sozial, ökologisch und ökonomisch nachhaltige Bewirtschaftung verbunden werden.

Die Planung eines Entlastungstunnels wird langfristig und partizipativ geplant. Das ASTRA ist im Kontakt mit allen betroffenen Gemeinden, Parteien, Anwohner*Innen.
(Foto: Rita Jost)

 

Wo mangelt es konkret?

Augenfällig ist der Mangel an Zugänglichkeit entlang der Schweizer Seeufer. Bei den grossen Seen ist heute weniger als die Hälfte der Ufer frei zugänglich und ein beträchtlicher Teil von Privaten verbaut. Auch von gemeinschaftlich genutzten, intelligent und klimagerecht gestalteten Aussenräumen, allgemeinen Infrastrukturen und der Spekulation entzogenem Wohnraum könnten alle profitieren. Dies würde allerdings rigorose Umverteilungs- und Bewirtschaftungsmassnahmen bedingen.

Planung mit Allen statt mit Wenigen?

Genau! Gerechte Planung muss auch bedeuten, dass Partizipation selbstverständlich ist, dass eine breite Konsensfindung darüber möglich ist, wie das rare Gut Boden genutzt wird. Mit der Corona-Pandemie wurde deutlich, wie privilegiert Menschen mit Grundeigentum gegenüber jenen waren und sind, die sich als Mieter*innen und Bewohner*innen von dicht bebauten Innenstädten die Rest-Grünflächen teilen mussten. Die Verteilfrage der Bodennutzung wurde schlagartig als eine der grossen Zukunftsfragen der Raumplanung erlebbar.

Sie waren über Jahre in der Partizipations- und Gemeinwesenpolitik tätig. Wie hat Sie das Streben nach einer gerechten Planung begleitet?

Da die genannte Kritik grundlegend ist und die Gegebenheiten nicht kurz-, ja nicht einmal mittelfristig zu ändern sind, gibt es keinen anderen als den pragmatischen Umgang mit dem Vorgefundenen. Dabei ist Hartnäckigkeit im Einfordern, zumindest aller durch die demokratischen Prozesse ermöglichten Mittel der Partizipation, oberstes Gebot. Ich habe beruflich nie direkt Aufgaben der Raumplanung übernommen, meine Sicht kommt quasi von unten, von der Empfänger*innenseite.

Das Herunterbrechen der raumplanerischen Vorgaben von der Bundes- über die Kantons- oder die regionale Ebene bis zum Handeln auf Gemeindeebene wird nur in wenigen grossangelegten Projekten unmittelbar erlebbar. Grosse Projekte erstrecken sich über Jahrzehnte. Angesichts einer solchen Zeitspanne ist kontinuierliche und offene Kommunikation zwischen Projektverantwortlichen und der betroffenen Bevölkerung unverzichtbar. Als gutes Beispiel kann hier der Autobahn-Bypass A6 in Bern genannt werden (siehe Kasten).

Was ist Ihre Botschaft an die Planer*innen von morgen?

Eine politisch geschärfte Optik wäre nötig. Die Planer*innen sollten sich bewusst sein, dass sie sehr wohl einen gewissen Handlungsspielraum haben. Sie sollen sich nicht zum Handlanger von Interessenvertreter*innen der Immobilien- und Finanzwelt machen, sondern sich als Botschafter*in einer nachhaltigen Raumentwicklung positionieren.

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