Ein Aarebad im Winter ist etwas für Verwegene. Die Wassertemperatur kann schon im November unter 10º Celsius sinken. Aktuell zeigt das Thermometer bei der Messstation Schönau gar erfrischende 5,2º Celsius an.
Trotzdem kennt fast jede Bernerin und jeder Berner jemanden, der das ganze Jahr über mindestens einmal pro Woche den Sprung in den Fluss wagt. Seit ein paar Jahren gibt es sogar den «Gfrörliclub», dessen Mitglieder sich jeden Freitag um 11.30 Uhr beim Altenbergsteg treffen, um gemeinsam dem eisigen Tun zu frönen. Spaziergänger und Joggerinnen, die das vom Ufer aus beobachten, haben dafür nur ein ungläubiges Kopfschütteln übrig – meist verbunden mit grossem Respekt vor der Kaltschnäuzigkeit der Mutigen.
Besonders schlimm: Die kalten Füsse
Im Gespräch mit ein paar Ganzjahresschwimmern wird schnell einmal klar, dass die Lufttemperatur eine ebenso wichtige Rolle spielt wie die Messwerte des Wassers. Denn nach dem Ausstieg aus dem Fluss gehen die meisten barfuss über den kalten, oft gefrorenen oder schneebedeckten Boden. Eine Thermosflasche, gefüllt mit warmem Wasser, ist für manche der wichtigste Ausrüstungsgegenstand für ihr Bad. Damit können die klammen Füsse vor dem Ankleiden etwas aufgewärmt werden.
Bei den eisigen Temperaturen stellt sich bald die Frage, ob denn die Aare überhaupt jemals zufriert. Die Befragten schütteln ihre Köpfe: Daran kann sich niemand erinnern. Auch emsiges Herumfragen im erweiterten Bekanntenkreis und eine Recherche im Internet liefern keine Hinweise darauf, dass dies jemals geschehen ist.
Ein Eintrag auf aaremarzili.info erwähnt allerdings, dass der Fluss 1983 dem Ufer entlang gefroren war: «Man musste vorsichtig das Eis brechen beim Ausstieg und der Körper war total mit Eis überzogen, das Bikini bretterhart gefroren», schreibt dort Susanna Jegher. Auf «20 Minuten Online» findet sich ein Artikel vom Februar dieses Jahres, in dem erwähnt wird, dass die Alte Aare beim bernischen Büren so dick gefroren war, dass man darauf Eislaufen konnte.
Tiefste gemessene Temperatur: 2,3º Celsius
Die Situation in der Alten Aare ist allerdings eine ganz andere. Zeit also, sich an die Wissenschaft zu wenden. Eine Anfrage an die Gruppe für Hydrologie der Universität Bern löst dort eine angeregte Diskussion beim wöchentlichen Teamtreffen aus. «Eine spannende Frage», sagt der Geograf Tom Reist zusammenfassend. Theoretisch könne jeder Fluss gefrieren, das passiere zum Beispiel in Finnland jedes Jahr. «Dazu braucht es aber lange Zeit sehr tiefe Temperaturen, ähnlich wie bei einer Seegfrörni.» Niemand in der Gruppe für Hydrologie kann aber auf Belege für ein Zufrieren der Aare bei Bern verweisen.
Es gibt diverse Gründe, die dagegen sprechen, dass die Aare überhaupt jemals gefriert: Das Wasser stammt grösstenteils aus dem Thunersee. Da der See einen grossen Wärmevorrat hat, hält sein Abfluss die Aare bis Bern weitgehend eisfrei. «Auch eine starke Strömung und der Zufluss von Grundwasser und warmen Quellbächen verzögern eine Vereisung», sagt Tom Reist weiter. Und tatsächlich: Laut den Messwerten des Bundesamtes für Umwelt beträgt die tiefste in Bern gemessene Aaretemperatur 2,3º Celsius. Diese Daten werden seit 1969 systematisch erfasst. Mögliche Belege für ein Überfrieren der Aare müssen also vor den vom Bund veröffentlichten Messwerten gesucht werden.
Mit «trummen und pfyfen»
Beim angesehenen Berner Klimahistoriker Christian Pfister werden wir fündig. Belegt sei ein Zufrieren der Aare zum Beispiel für den Dezember 1788. In seinem Werk «Wetternachhersage» gibt Pfister dazu dem Berner Insektenforscher und Meteorologen Samuel Studer (1757–1834) das Wort: «Die Aar, welche damals so klein und niedrig war, dass sich niemand sie je in dieser Niedrigkeit gesehen zu haben erinnern möchte, fror obenher der Schwelle an der Matten ganz zu. So weit man sie von dem Marcile Thor [Stadttor im Marzili] weg überschauen kann, war sie mit einer dicken Rinde von Eis bedeckt.»
Also doch!
Pfister verweist zudem auf weitere solche Ereignisse. Laut seinen Forschungen war die Aare bei Bern in den folgenden Monaten gefroren: im Januar 1573 («Am 10. Januar schlittelte die Berner Jugend auf der gefrorenen Aare», und es zogen die Vertreter etlicher Zünfte mit «trummen und pfyfen» auf die den Fluss), im Januar 1616 («also dass man von der Matte daruff gahn Marzili und zu Sulgenbach gangen, die Knaben daruf gekurzwylet»), im Januar 1709, zum Jahreswechsel 1789/90 («Am Neujahrstag wagten sich mehrere Personen über das Eis und schrieben ihren Namen an einen hervorstehenden Sandsteinfelsen»), sowie im Winter 1829/30.
Das letzte belegte Zufrieren der Aare bei Bern liegt also über 180 Jahre zurück. In Pfisters Buch «Wetternachhersage» findet sich zwar noch ein Foto von Olten, wo die Aare im Februar 1963 zugefroren war. Ob das in Bern auch der Fall war, kann Pfister aber nicht sagen.