Kam Hodler im Käfigturm zur Welt? (4)

von Fredi Lerch 11. September 2018

Bern feiert Hodlers 100sten Todestag. Aber wo wurde Hodler eigentlich geboren? Eine Infotafel im Käfigturm sagt: Genau hier. Stimmt das? – Möglich bleibt es. Zu lernen ist: Geschichte wird immer gemacht. 

Immerhin soviel kann unterdessen als sicher gelten: Margaritha Hodler-Neukomm war Anfang März 1853 hochschwanger, seit drei Monaten war sie verheiratet, und seit drei Wochen lebte sie mit ihrem Mann in einer gemeinsamen Wohnung im Haus 233 rot, wo man zweifellos einen Zins zu bezahlen hatte. Bekannt ist, dass Ferdinand Hodler rund fünfzig Jahre später dem Journalisten C. A. Loosli erzählt hat, seine Eltern hätten beide «nichts» besessen «als einige unbedeutende Lohnersparnisse und ihren Arbeitswillen». Zudem: Seine Mutter sei ein «äusserst frohgemutes Mädchen» gewesen, das «ungemein tapfer und ausdauernd arbeitete».[1] Bekannt ist, dass Hodlers Geburtstag, der 14. März 1853, ein normaler Werktag – ein Montag – war und dass der Käfigturm von der Schauplatzgasse 37 her zu Fuss in weniger als fünf Minuten zu erreichen ist. Klar ist in dieser Situation, dass das junge Paar auf Geld dringend angewiesen war und Frau Hodler, obschon hochschwanger, eine starke Motivation gehabt haben muss, den Taglohn verdienen zu gehen. Und als wahrscheinlich anzunehmen ist, dass der Arbeitstag der Käfigturm-Köchin damals nicht weniger als zwölf Stunden betragen haben wird. 

Mit diesem Wissen steht man vor der Frage: Ist Margaritha Hodler-Neukomm am 14. März 1853 zur Arbeit gegangen – ja oder nein? Es gibt zwei Antworten: 

1. Gestützt auf Brüschweiler sagt der ab jetzt massgebliche Catalogue raisonné zu Hodlers Werk, Strasser habe «1950 das Haus ‘233 rot’ als Hodlers Geburtsort eruiert», Frau Hodler habe ihren Sohn Ferdinand demnach zuhause geboren, sei also nicht zur Arbeit gegangen. 

2. Gestützt auf die von Loosli übermittelten mündlichen und schriftlichen Aussagen Hodlers lautet die zweite Antwort, die Taglöhnerin Hodler sei an jenem Morgen zur Arbeit gegangen und sei – in den Worten des Archivars Christian Lerch – «bei ihrer Arbeit von den Geburtswehen überrascht worden». 

Eine medizinhistorische Einschätzung

Eine bis hierhin formulierte erste Fassung dieses Textes sende ich an Hubert Steinke, Direktor des Instituts für Medizingeschichte der Universität Bern. Meine Frage: «Ist es möglich, dass Margaritha Hodler-Neukomm am Morgen jenes 14. März die ca. fünf Minuten von der Schauplatzgasse 37 zum Käfigturm hinüber zur Arbeit gegangen, während der Arbeit tagsüber von akuten Wehen überrascht worden ist und ihr Kind deshalb am Arbeitsplatz – im Käfigturm – geboren hat?» 

Steinkes Antwort: «Mir kam in Anbetracht der schwierigen Finanzverhältnisse des jungen Paars in den Sinn, diese hätten allenfalls die Geburtsstube am Inselspital [am Standort des heutigen Bundeshauses Ost, fl.] oder die Entbindungsanstalt an der Brunngasse 48 in Erwägung gezogen. An diesen Anstalten konnten ärmere Frauen kostenlos gebären, hier fanden jährlich rund 300 Geburten statt. Ich habe daher die entsprechenden Geburtstabellen im Staatsarchiv überprüft, aber Margaritha Hodler nicht gefunden. Das kommt aber nicht unerwartet, waren die Anstalten doch eher darauf ausgerichtet, bettlägerige Schwangere vor der Geburt aufzunehmen und während Tagen/Wochen zu betreuen. Für Arme gab es zudem noch die Möglichkeit, eine Hebamme rufen zu lassen und diese nur mit einem geringen Lohn oder gar nicht zu entschädigen. Die Hebammen konnten in diesen Fällen bei den Behörden Entschädigung einfordern. Da sich die Eltern Hodler aber doch immerhin eine eigene Wohnung leisten konnten, lag wohl auch eine Entschädigung für eine Hebamme drin. Ganz ohne Hilfe einer Hebamme zu gebären, wäre ungewöhnlich gewesen.

Was die Frage der Wehen und der plötzlichen Geburt betrifft, so würde ich nicht ausschliessen, dass eine Taglöhnerin bei leichten Wehen noch zur Arbeit ging. Ich würde auch nicht ausschliessen, dass man bei während der Arbeit rasch einsetzenden und zunehmenden Wehen von einem Transport in die Wohnung absah und die Hebamme direkt in den Käfigturm bestellt wurde. Die medizinische Einschätzung, wie rasch es vom Einsetzen der Wehen bis zur Geburt gehen kann und ob unter diesen Umständen ein Transport beinahe verunmöglicht wird, müsste eine Hebamme/Gynäkologin geben. Die Geburt im Käfigturm möchte ich also nicht ausschliessen. Se non è vero…»[2]

Eine gynäkologische Einschätzung

Die Frage, die Steinke offenlässt, ist die: Angenommen, Frau Hodler ist am Morgen des 14. März 1853 tatsächlich zur Arbeit gegangen und im Käfigturm von Wehen überrascht worden: Warum ist sie dann die rund fünf Minuten Fussweg in ihre Wohnung nicht zurückgegangen oder getragen worden, um zuhause gebären zu können? Daniel Surbek ist Chefarzt und geschäftsführender Co-Klinikdirektor an der Universitätsklinik für Frauenheilkunde in Bern und hält in seiner Stellungnahme einleitend fest, die Frage sei für ihn auch deshalb interessant, weil sein Grossonkel, der Kunstmaler Victor Surbek (1885-1975) selber zum Hodler-Kreis gehört habe. Zur Käfigturm-These hält er fest:

«Aus gynäkologischer Sicht scheint es mir möglich, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich, dass die Geburt im Käfigturm stattgefunden hat. In weit über 90 Prozent der Geburten bei Erstgebärenden gibt es mindestens zwei Stunden Zeit zwischen dem Einsetzen starker Wehen und der Geburt, sodass ein Transport in die Wohnung möglich gewesen wäre, falls ein solcher durch die Frau gewünscht gewesen wäre. Andererseits kann es sein, dass der Käfigturm der Mutter Hodler eine akzeptable Umgebung für die Geburt geboten hat, sodass sie gar nicht unter Wehen nach Hause transportiert werden wollte. Vielleicht sind Arzt und/oder Hebamme in den Käfigturm geeilt, und haben dort alles Nötige für eine Geburt eingerichtet. Zusammenfassend, vor dem historischen Hintergrund, würde ich sagen: ca. 70 Prozent Wahrscheinlichkeit: Geburt zuhause.»

Abschliessend macht Surbek einen Vorschlag, wie die Käfigturmthese vollständig erhärtet werden könnte: «Ich frage mich, ob man mit DNA-Analyse weiterkäme. Eine Geburt geht nicht ohne Blutspuren vorüber, vielleicht kann man da an entsprechenden Stellen in Ritzen von Holz oder auf dem Gesteinsboden heute noch etwas nachweisen?»[3]

Die blutsverwandte Person, die für eine vergleichende Blutanalyse nötig ist, wäre noch zu finden. Zwar ist Hodlers Sohn Hector (1887-1920) kinderlos gestorben. Aber es gab auch die uneheliche Tochter Paulette Godé (1913-1999), nach Hodlers Tod von Berthe Hodler adoptiert, später verheiratet mit Paul Magneant. Sie ist als Aquarellistin und Karikaturistin unter dem Namen Pauline Valentine Hodler-Magneant in die Kunstgeschichte eingegangen und hatte drei Kinder. Ein Sohn lebt noch, zudem eine Enkelin und ein Urenkel.[4] Das unlösbare Problem für eine solche DNA-Analyse ist ein anderes: 1902/03 wurde für die Fussgängerpassage der zweite, kleine Torbogen durch den Käfigturm gebrochen. Welche Räumlichkeiten dem Durchbruch zum Opfer fielen, hat C. A. Loosli 1944 so beschrieben: «Mir ist das Untergeschoss des Käfigturmes, mit der Wohnung des Gefangenenwartes vor der Zeit seines Umbaues, noch in deutlicher Erinnerung. Es enthielt einen Vorraum mit Treppenaufgang zu dem oberen Stockwerk, eine Küche und drei bescheidene Wohnräume.»[5] In dieser Küche hat Frau Hodler vermutlich gekocht, und in einem dieser Wohnräume wird sie sich hingelegt haben, falls sie im Käfigturm geboren hat. 

«Zudem», sagt Thomas Göttin, Geschäftsführer des Polit-Forums, als er vom Vorschlag hört, man könnte im Käfigturm nach DNA-Spuren zu suchen, «ist der Turm 1980 totalsaniert worden. Es ist auszuschliessen, dass man hier frühere DNA-Spuren finden würde.»

Wahrheit gibt es nicht, bloss Geschichten

Zu guter Letzt: Warum ein solcher Aufwand zur Klärung ein solches Details? Ist es denn nicht eigentlich herzlich egal, ob der Kunstmaler Ferdinand Hodler am 14. März 1853 im Käfigturm oder im Haus 233 rot auf der Höhe der Schauplatzgasse 37 oder sonstwo in der Berner Oberstadt zur Welt gekommen ist? – Doch, das ist es.

Jedoch bietet die Geschichte um dieses historische Detail die Möglichkeit, sich über etwas Grundsätzliches klar zu werden: Zu historischen Ereignissen gibt es immer eine grössere oder kleinere Anzahl von Quellen. Weil Quellenlagen in den seltensten Fällen eindeutig sind, heisst Geschichtsschreibung stets auch, aus der konkreten Quellenlage ein möglichst plausibles Narrativ zu konstruieren. Je nachdem, welche Quellen als die glaubwürdigsten angesehen werden, wird schliesslich das eine oder andere Narrativ zur historischen Wahrheit kanonisiert.

Dieser Vorgang hat nicht nur mit Geschichtsschreibung, sondern auch mit dem zu tun, was der Soziologe Pierre Bourdieu mit den «feinen Unterschieden» gefasst hat. Wären C. A. Loosli und Ferdinand Hodler nicht kantige Unterschichtsautodidakten gewesen, sondern bestandene Akademiker bernburgerlicher Herkunft, dann wäre es seit Menschengedenken eine unbestrittene geschichtliche Tatsache, dass Hodler im Käfigturm geboren worden sei. Schon nur, weil es in diesem Fall seit 1950 eine entsprechende Gedenktafel in der Käfigturmpassage gäbe – spätestens seit den 1990er Jahren mit englischer, japanischer und chinesischer Übersetzung. 

Kurzum: Wenn sich Gelegenheit bietet, lohnt es sich immer wieder, über die Herstellung geschichtlicher Unhinterfragbarkeit nachzudenken.