Kam Hodler im Käfigturm zur Welt? (3)

von Fredi Lerch 9. September 2018

Bern feiert Hodlers 100sten Todestag. Aber wo wurde Hodler eigentlich geboren? Eine Infotafel im Käfigturm sagt: Genau hier. Stimmt das? – Ja, vorausgesetzt, das Wohnhaus der Familie Hodler war nicht das Geburtshaus.

Und was hat es eigentlich mit dem «Haus 233 rot» auf sich, das der neue Catalogue raisonné zu Hodlers Werk als «Geburtsort» des Kunstmalers bezeichnet? 

1950 wird im Vorstand des Verschönerungsvereins Bern der Vorschlag gemacht, am Geburtshaus von Ferdinand Hodler eine Gedenktafel anzubringen. Deshalb wird der Stadtplaner von Bern, Emil E. Strasser, um ein Gutachten gebeten.[1] Strasser macht es sich darin zuerst zur Aufgabe, die Käfigturm-These in Frage zu stellen, indem er in Looslis Darstellung von Hodlers «persönlichen Mitteilungen» verschiedene Ungenauigkeiten nachweist. Zum Beispiel habe Hodlers Grossvater nicht Gebhardt, sondern Johannes geheissen und Hodlers Vater sei am 24., nicht am 21. Dezember 1860 in La Chaux-de-Fonds gestorben. Daneben meint er herausgefunden zu haben, dass Hodler nicht im Münster, sondern in der Heiliggeistkirche getauft worden sei – eine Tatsache, die Loosli bereits ein Vierteljahrhundert vorher in seinem Korrigendum berichtigt hat.

Wichtig ist Strassers Gutachten, weil es zwei Entdeckungen enthält. Strasser findet das Datum der Heirat des Ehepaars Hodler. Es ist der 4. Dezember 1852. Damit ist klar, dass das Paar im sechsten Monat der Schwangerschaft geheiratet hat. Und er findet im «Einsassen-Register» (der damaligen Einwohnerkontrolle) der Stadt Bern einen Eintrag, wonach unter dem «21. Februar 1853 dem Ehepaar Hodler-Neukomm ein Einsassenschein ausgestellt und gleichzeitig dessen gemeinsame Wohnungsadresse mit ‘233 roth’ notiert» worden sei. Damit ist Looslis Darstellung von 1921 widerlegt, dass Hodler deshalb im Käfigturm zur Welt gekommen sei, weil seine Mutter auch dort gewohnt habe: Tatsächlich wohnte sie seit gut drei Wochen vor der Geburt im Haus 233 rot.

Zudem rekonstruiert Strasser als Fachmann akribisch, wo das 1870 abgebrochene Haus 233 rot gestanden haben muss: «Wir haben uns der Mühe unterzogen, den Atlas Oppikofer [1818-1822, fl.] auf einen heutigen Katasterplan aufzuzeichnen, wodurch die Lage des ehemaligen Hauses rot 233 eindeutig bestimmt ist. Aus dieser Übereinanderzeichnung ergab sich unzweideutig, dass das Haus 233 rot […] dort stand, wo [die] heutige […] Schauplatzgasse 37 steht.»[2] 

Der verhängnisvolle Fehler des Stadtplaners

Dummerweise war Strasser Stadtplaner und nicht Schriftsteller. In einem entscheidenden Punkt ist er in seinem Gutachten unsorgfältig mit den Wörtern umgegangen. Während er im Zusammenhang mit diesem Haus 233 rot zuerst korrekt vom «Domizil» und von der «gemeinsamen Wohnungsadresse» des Ehepaars spricht, schreibt er gegen Schluss plötzlich: «Man könnte sich ja fragen, ob man trotz dieses Nachweises des wirklichen Geburtshauses…» etc.[3] Mit anderen Worten: Er macht ohne jeden Beleg die Wohnadresse der Eltern zum Geburtshaus des Sohns. Diese sinnentstellende Unsorgfältigkeit Strassers hat Folgen.

1983 beginnt mit einer grossen Retrospektive in Berlin, Paris und Zürich die Hodler-Renaissance, die ihn seither zu einem der Grossen der Kunstgeschichte gemacht hat. Zur Retrospektive erscheint ein kunstgeschichtlich bedeutender Katalog, für den der Historiker und ausgewiesene Hodlerkenner Jura Brüschweiler eine kurze illustrierte Chronologie verfasst, keine wissenschaftliche Arbeit, sondern eine Orientierungshilfe für das breite Publikum. Entsprechend werden keine Fussnoten verwendet, der Name Brüschweiler allein bürgt für den Stand der wissenschaftlichen Forschung. Unter dem Jahr «1853» ist in dieser Chronologie zu lesen: «14. März in Bern: Geburt Ferdinand Hodlers. Das Geburtshaus ‘233 rot’ befindet sich im ‘roten Armenviertel zwischen Käfigturm und Heiliggeistkirche, heute das Haus Schauplatzgasse 37.»[4] In der Fussnote 16 – «Brüschweiler (Chronologische Übersicht), S. 44» – bezieht sich die Darstellung im Catalogue raisonné auf genau diese Textstelle.

Ein Experte ist für einmal zu wenig quellenkritisch

Damit gerät die Quellenlage von Brüschweiler in den Fokus: Entweder hat er 1983 stillschweigend Strassers nicht belegte Gleichsetzung von Wohnhaus und Geburtshaus übernommen oder ihm hat eine bisher unbekannte Quelle zur Verfügung gestanden. Brüschweilers Nachlass liegt heute in den «Archives Jura Bruschweiler» in Delémont. Die Mailanfrage, die meinen Kenntnisstand schildert und darum bittet, in Brüschweilers Archiv nachzuforschen, ob es dort einen bisher unbekannten Hinweis zu Hodlers Geburtsort gebe, wird von der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Diana Blome exakt bearbeitet. 

Nach ihrer Archivrecherche schreibt sie zurück: «Leider muss ich Ihnen sagen, dass wir im Archiv keinen eindeutigen Beweis zur Bekräftigung oder Widerlegung der Käfigturm-These finden konnten. Weder im Familienschein noch im Heimatschein ist der genaue Ort der Geburt erwähnt. In beiden Fällen wird lediglich Bern als Geburtsstadt angegeben. Auch ein Typoskript von Jura Brüschweilers Chronologie ist leider nicht mehr vorhanden.»[5]

Dieser Kenntnisstand erlaubt folgenden Schluss: Für die nächsten Jahrzehnte ist für die zünftige Kunstgeschichte Hodlers Geburtsort das Haus 233 rot, weil sich der Catalogue raisonné auf Brüschweiler stützt, der von Strasser die Gleichsetzung von Wohnhaus und Geburtshaus übernommen hat. Gegen diese unbelegte Gleichsetzung steht aber weiterhin Hodlers mündliche und schriftliche Aussage, er sei im Käfigturm geboren worden.

Die Käfigturm-Köchin Margaritha Hodler

Als Loosli 1944 die Recherche nach Hodlers Geburtsort noch einmal aufnimmt, korrespondiert er auch mit dem Archivar Christian Lerch im bernischen Staatsarchiv. Dieser schreibt nach seinen Abklärungen zusammenfassend an Loosli: «Dass Hodler im Käfigturm geboren sei, möchte ich nicht ohne weiteres von der Hand weisen. Es wäre z. B. denkbar, dass seine Mutter bei ihrer Arbeit von den Geburtswehen überrascht worden wäre und dass man sie nicht mehr hätte wegschaffen können.»[6]

Vierundsiebzig Jahre später erklärt sich der wissenschaftliche Mitarbeiter des Berner Staatsarchivs, Vinzenz Bartlome, bereit, noch einmal nach einer Spur von Margaritha Hodler-Neukomm zu suchen. Über seine Archivrecherche berichtet er: «[Ich] habe mich auf die Suche gemacht, um auf irgendeine Weise diese Geschichte, die ja in sich ganz plausibel oder doch zumindest nicht unmöglich klingt, irgendwie mit Fakten zu untermauern, auch wenn natürlich klar ist, dass sich der entscheidende Punkt – dass nämlich die Niederkunft im Käfigturm geschah – niemals beweisen lässt. Aber mir hätte ja auch schon genügt, wenn ich einen Beleg für eine Anstellung von Margaritha Hodler, geb. Neukomm, in der Verwaltung gefunden hätte. Aber damals wie heute haben wir kleinen Leute eine sehr geringe Überlieferungschance. Selbstverständlich musste Hodlers Mutter die ausbezahlten Löhne irgendwie quittieren, aber wahrscheinlich wurden bereits kurz nach Abnahme der Jahresrechnung diese Belege als obsolet ‘kassiert’ (d.h. vernichtet). Und so ist der Vermerk in der Jahresrechnung 1853 der Strafanstalt Bern unter der Rubrik ‘Haushaltung und Küche’ wahrscheinlich alles, was für die Nachwelt von ihrer täglichen Arbeit dokumentarisch übrigblieb: ‘2985 Männer- und 3640 Weiber-Tagwerke’. Eine dieser zehn (oder vielleicht auch elf, zwölf oder mehr) Frauen, die hier im Taglohn arbeiteten, war wohl Margaritha Hodler.»[7]

Damit ist klar: Wenn es stimmt, dass Margaritha Hodler-Neukomm im Käfigturm als Köchin für die Gefangenen arbeitete, so tat sie das als Taglöhnerin. Das heisst: Wenn sie zur Arbeit ging, kriegte sie Lohn, sonst kriegte sie keinen.