Kam Hodler im Käfigturm zur Welt? (2)

von Fredi Lerch 7. September 2018

Bern feiert Hodlers 100sten Todestag. Aber wo wurde Hodler eigentlich geboren? Eine Infotafel im Käfigturm sagt: Genau hier. Stimmt das? – Sicher nicht! Der Biograf C. A. Loosli hat Hodler ja selber nicht geglaubt.

Bloss, um sicher zu gehen, dass Hodler tatsächlich im Käfigturm geboren worden sei, rufe ich Erwin Marti an. Er hat eben den abschliessenden Band seiner monumentalen C. A. Loosli-Biografie veröffentlicht und ist in Loosli-Fragen der beste Experte. Auf meine Geschichte reagiert Marti nicht wie gewünscht: Zum einen habe Loosli die Käfigturm-These in seinem vierten Band zu Hodlers Leben, Werk und Nachlass selber in Frage gestellt, Hans Sommer habe dieses Korrigendum ein halbes Jahrhundert später offenbar übersehen. Und zum anderen habe er, Marti, eben letzthin irgendwo gelesen, Hodler sei mit Sicherheit anderswo geboren worden. Wenn es mich interessiere, versuche er, die Quelle dieser Information zu rekonstruieren. 

Ich bitte darum und kläre vorderhand ab, was es mit Looslis Distanzierung von der Käfigturm-These auf sich habe. Tatsächlich finden sich im 1924 erschienenen Band 4 von Looslis Hodler-Werk zwei einschlägige Stellen. 

• Im Abschnitt «Verschiedenes» wird der undatierte Entwurf einer Hodler-Notiz zu seiner eigenen Biografie dokumentiert, der mit den Worten beginnt: «Geboren ist Hodler in Bern, 1853. Im Käfigturm … wo seine Mutter Köchin war für die Gefangenen. […]». In einer kursiv gesetzten Klammerbemerkung kommentiert Loosli diese Hodler-Notiz so: «(Die hier von Hodler aus dem Gedächtnis angegebenen Daten stimmen nicht, ebensowenig ist weder nachweisbar noch auch nur wahrscheinlich, dass er wirklich im Käfigturm zur Welt kam. […])»[1] 

• Und im Abschnitt «Ergänzungen und Berichtigungen» schreibt er zu seiner Darstellung im Band 1 folgendes Korrigendum: «Der Nachweis, dass Hodler wirklich im Käfigturm geboren wurde, konnte trotz den eingehenden Nachforschungen des bernischen Staatsarchivars, Herrn E. Kunz, dem ich für seine freundlichen Bemühungen auch an dieser Stelle meinen verbindlichen Dank ausspreche, nicht erbracht werden und es ist sogar fraglich, ob die Überlieferung Hodlers auf Tatsachen fusst. […] Ebenso beruhte die Mitteilung Hodlers, er sei im Münster zu Bern getauft worden, auf einem Irrtum. Laut Taufrodel der Heiliggeistkirche wurde Ferdinand daselbst am 17. April 1853 getauft.»[2]

Damit nimmt Loosli die Käfigturm-These von Hodlers Geburt allerdings tatsächlich aus dem Spiel. Andererseits macht die zitierte Hodler-Notiz immerhin klar, dass jener Loosli nicht mit einem spontanen Einfall einen Bären aufzubinden versucht hat, sondern tatsächlich davon überzeugt war, im Käfigturm geboren worden zu sein.

Was die aktuelle Kunstgeschichte sagt

Noch am gleichen Tag trifft von Erwin Marti ein Mail ein[3]: Er hat die Quelle gefunden, wonach die Käfigturm-These erledigt sei. Es ist der eben erschienene Band 4 des Catalogue raisonné zu Hodlers Werk, herausgegeben vom Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA). Darin gibt es einen biografischen Beitrag zu Hodlers Herkommen. Dort steht: «Über Hodlers Geburts­haus existieren unterschiedliche Angaben: Loosli nannte die Wohnung des Gefangenenwärters im Käfigturm, was er später widerrief. Laut Leo Merz, Direktor des Berner Unterrichtswesens, konnte das Geburtshaus von Hodler nicht ermittelt werden, doch komme eher die Krankenabteilung des ehemaligen Zuchthauses Aarbergertor als der Käfigturm in Frage. So gab er zu bedenken, dass Hodler in der Heiliggeistkirche und nicht in der Müns­terkirche getauft worden war, was darauf hindeute, dass Hodlers Eltern in der oberen Gemeinde wohnten, während der Käfigturm zur mittleren gehörte. Seine Schlussfolgerung wird durch Emil Strasser gestützt, der 1950 das Haus ‘233 rot’ als Hodlers Geburtsort eruierte. Mit ‘rot’ ist das Quar­tier zwischen Christoffelturm und Käfigturm gemeint.»[4]

Damit ich dem Geschäftsführer des Polit-Forums Bern im Käfigturm, Thomas Göttin, plausibel begründen kann, warum er die Gedenktafel im Veranstaltungsraum des Käfigturms am besten schleunigst abschrauben soll, blättere ich im Catalogue raisonné noch zu den Fussnoten weiter: Aufgrund welcher Quellen kommt er zu seiner Darstellung? Und was hat es mit diesem Haus «233 rot» auf sich? 

Ein unbekanntes Loosli-Typoskript taucht auf

In der Darstellung des Catalogue raisonnés findet sich beim Satz, Loosli habe später seine Käfigturm-These widerrufen, die Fussnote 14, die auf folgendes Dokument verweist: «AH.MAHN, HA 22.4, Faszikel Nr. 75, ‘Nachträge’, S, 153».[5]

Eine spannende Signatur. Sie verweist auf das geheimnisumwitterte Hodler-Archiv von C. A. Loosli, das dieser während seiner Jahre mit Hodler und Jahrzehnte über dessen Tod hinaus zusammengetragen hat und der Hodlerforschung heute als unverzichtbare Quelle dient. Allerdings erst seit 2004: Verbittert darüber, dass ihm bis ins Alter jede öffentliche Unterstützung für die fundierte publizistische Bearbeitung dieses Archivs verwehrt geblieben war, vermachte Loosli es testamentarisch dem Musée d’art et d’histoire in Neuenburg unter der Bedingung, dass es über seinen Tod hinaus fünfzig Jahre gesperrt bleiben sollte. Loosli starb am 22. Mai 1959, geöffnet und von Neuenburg nach Zürich ins SIK-ISEA überführt wurde es schliesslich im Januar 2004. Die beiden erbberechtigten Grosssöhne Kurt und Peter Loosli hatten das Einverständnis zur vorzeitigen Öffnung des Archivs gegeben, damit es bei den damals eben anlaufenden Arbeiten am Catalogue raisonné zu Hodlers Werk mit einbezogen werden konnte. Deshalb schliesse ich aus der Fussnote 14 auf ein bisher ausserhalb des SIK-ISEA unbekanntes Typoskript Looslis. 

Auf meine Anfrage reagiert man beim SIK-ISEA zuvorkommend und mailt mir das, was sich hinter der Signatur versteckt, als PDF zu. Es sind die Seiten 153 bis 156 eines unveröffentlichten Loosli-Typoskripts. Titel des Abschnitts: «Geburtsort und Taufkirche Ferdinand Hodlers». Die Datierung des Typoskripts wird schnell klar. Loosli schreibt, er habe seine Nachforschungen zum Thema «im Frühjahr 1944» wieder aufgenommen, weil ihm die Fehler und Ungenauigkeiten im Band 1 und im Korrigendum des Bands 4 seines Hodler-Werks keine Ruhe gelassen hätten. Loosli kontaktiert 1944 Fachleute des Staatsarchivs Bern und des Kantonalen Frauenspitals, wo er Akten zur historischen «akademischen Entbindungsanstalt» zu finden hofft. Nach Abschluss der Recherchen hält er zusammenfassend fest: «Daraus ergibt sich für mich, dass die Annahme, Hodler sei im Käfigturm zur Welt gekommen, immerhin noch die grösste, ja, an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit für sich hat.»[6] 

Neue Wendung! Looslis Sicht auf die Käfigturm-These hat sich zweimal verändert: Nachdem er 1921 in seiner biografischen Skizze Hodlers wohl auf dessen Mutter zurückgehende mündliche Darstellung als Tatsache referiert und 1924 im Korrigendum in Frage gestellt hat, hält er sie 1944 nach neuerlichen Abklärungen wieder mit «an Gewissheit grenzende[r] Wahrscheinlichkeit» für plausibel. Damit ist die Käfigturm-These wieder im Spiel.

Was die aktuelle Kunstgeschichte unterschlägt

Als ich gleich darauf im Catalogue raisonné den Satz noch einmal lese, der mit der Fussnote 14 schliesst, bin ich ratlos. Er lautet: «Loosli nannte die Wohnung des Gefangenenwärters im Käfigturm [als Geburtshaus, fl.], was er später widerrief.» Wenn nach diesem Satz eine Fussnote steht, gehe ich in guten Treuen davon aus, dass diese nachweist, wo Loosli widerrufen hat, Hodler sei in der «Wohnung des Gefangenenwärters» zur Welt gekommen. Diese Insinuation ist irreführend und falsch: Im Typoskript von 1944 findet sich kein Widerruf – im Gegenteil. Loosli neigt wieder dazu, Hodlers mündliche Darstellung für plausibel zu halten.