Beim Besuch einer Veranstaltung im Käfigturm in der Berner Altstadt komme ich mit dem Geschäftsführer des dort domizilierten Polit-Forums Bern, Thomas Göttin, ins Gespräch. Im Veranstaltungsraum des zweiten Stocks zeigt er mir eine kleine, mit zwei Schrauben in der grob behauenen Wand fixierte Blechtafel, auf der zu lesen ist: «Für einen der bedeutendsten Berner des 19. Jahrhunderts spielte ein schöner Stadtbrunnen Lebensschicksal: seine Eltern lernten sich am Seilerbrunnen kennen. Sie: Margarete Neukomm, ein ‘hübsches, sehr lebhaftes und äusserst frohmütiges Mädchen’, das im Käfigturm für die Straf- und Untersuchungsgefangenen kochte; er: Johann Hodler, ein ernster, auffallend verschlossener Schreinergeselle. Die jungen Leute heirateten nach kurzer ‘Brunnen’-Bekanntschaft, obwohl sie sich vorläufig noch keine gemeinsame Wohnung leisten konnten. So kam Ferdinand Hodler am 14. März 1853 in der Mägdekammer seiner Mutter im Käfigturm zur Welt… / Hans Sommer: ‘Bern und die Berner vor 125 Jahren‘».
Wir sind uns einig: eine gute Geschichte. Aber ob das tatsächlich so gewesen ist? Woher hatte Hans Sommer, immerhin ein Historiker, diese Informationen? Nach einigen Klicks auf dem Handy ist klar: Sommer wurde 1900 geboren und kam wohl 1916 von Aeschlen bei Oberdiessbach ins Seminar Muristalden nach Bern. Ob er die Episode von Hodlers Geburt im Käfigturm damals, zur Zeit des Ersten Weltkriegs, irgendwo in der Stadt aufgeschnappt hat?
Ich sage zu, die Spur aufzunehmen.
Wo Hans Sommer fündig geworden ist
Was auf der Tafel im Käfigturm steht, entspricht ungekürzt und wörtlich der Passage in Sommers Buch, das als Quelle angeben ist.[1] Allerdings ergibt seine Konsultation, dass Sommer keinen Hinweis macht, woher er diese Episode hat. Immerhin weist die als Zitat angeführte Charakterisierung von Hodlers Mutter – ein «hübsches, sehr lebhaftes und äusserst frohmütiges Mädchen» – darauf hin, dass sich der Autor auf eine schriftliche Quelle stützt. Wie weiter? Muss ich nach dem Nachlass des 1989 verstorbenen Hans Sommer suchen in der Hoffnung, darin eine Typoskriptversion des Buches zu finden, aus der sich die Quelle erschliesst?
Vorerst rufe ich den Schriftsteller Beat Sterchi an, von dem ich weiss, dass er sich seit langem kontinuierlich mit Ferdinand Hodler beschäftigt. Tatsächlich ist ihm die Episode von Hodlers Geburt im Käfigturm bekannt. Als ich nach seiner Quelle frage, nennt auch er Hans Sommer, jedoch einen anderen Buchtitel: «s’git numen eis Bärn», eine Sammlung von Jugenderinnerungen.[2]
Ein Blick in dieses Buch genügt, um die Suche nach Sommers Nachlass überflüssig zu machen. Seine Quelle ist das vierbändige Hodler-Werk von C. A. Loosli. Darin gibt es eine biografische Skizze, in der es heisst: «Die jungen Leute verliebten sich und heirateten einander nach verhältnismässig kurzer Bekanntschaft, obwohl sie beide nichts besassen als einige unbedeutende Lohnersparnisse und ihren Arbeitswillen. So kam es, dass, als Ferdinand am 14. März 1853 zur Welt kam, seine Eltern sich noch beide in ihren Stellen befanden und keine gemeinsame Wohnung bezogen hatten. Ferdinand kam also im Käfigturm zur Welt und wurde, acht Tage nach seiner Geburt, im Münster zu Bern getauft.»[3] Auch die von Sommer zitierte Wendung vom «hübsche[n], sehr lebhafte[n] und äusserst frohmütige[n] Mädchen» findet sich in dieser Passage.
Damit ist klar: Was auf der Tafel im Käfigturm Hans Sommer zugeschrieben wird, hat C. A. Loosli bereits 1921 veröffentlicht. Bloss die – offenbar frei erfundene – «Mägdekammer» scheint von Sommer hinzugefügt worden zu sein. Aber welche Quellen hatte Loosli?
Wo C. A. Loosli fündig geworden ist
Lesesaal der Nationalbibliothek. Loosli beginnt im Band 1 seines Hodler-Werks die biografische Skizze mit dem Kapitel «Die Kinderzeit Ferdinand Hodlers». Direkt unter diesem Titel steht abgesetzt in kleinerer Schrift: «Quellen: Persönliche Mitteilungen Ferdinand Hodlers.»
Damit scheint der Fall klar: Loosli (1877-1959) und Hodler (1853-1918) kannten sich seit 1898, waren bald einmal befreundet, und als Hodler 1908 Präsident der Gesellschaft schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten (GSMBA) wurde, machte er Loosli zu seinem Zentralsekretär.[4] Die beiden waren deshalb über viele Jahre kulturpolitisch und privat in engem Austausch. Dass Loosli sich über Hodler dokumentierte im Hinblick auf eine Biografie, wusste dieser und wird bei Gelegenheit entsprechend aus seinem Leben erzählt haben. Wenn ich nicht geradewegs annehmen will, dass Hodler seinem Eckermann mit der Käfigturm-Geschichte etwas frei Erfundenes erzählt hat, muss auch er eine Quelle für die Episode seiner Geburt gehabt haben. Belegbar ist diese Quelle nicht, aber naheliegenderweise hat er sie von seinen Eltern aufgeschnappt. Nun ist Hodlers Vater bereits 1860 verstorben, seine Mutter dann 1867, als er dreizehn war. Am ehesten ist es darum so, dass Ferdinand Hodler im Abstand von fast einem halben Jahrhundert Loosli die Episode seiner Geburt so weitererzählte, wie er sie seinerzeit von seiner Mutter gehört hat.
Eine Mittagspause lang bin ich überzeugt, damit die Quellenlage zur Tafel im Käfigturm geklärt zu haben.