Käseschnitte im Heimritz – eine Bilanz in Bildern

von Fredi Lerch 24. Dezember 2013

Jahresrückblick von Fredi Lerch: «2013 war ein gutes Jahr. Ich kurvte auf meinen veraltenden Ansichten durch mein Sechzigstes und kam bisher ohne gröbere Einfädler um die ewigen Wahrheiten herum.»

I. Babylonischer Turm (im Bau)

Der Turm zu Babel wuchs erneut erfreulich: Wir profitieren mit, plädieren dezidiert für den Minergie-Standard (auch für Aussichtsplattformen) und bei den polnischen Billigarbeitern auf der Baustelle wünschen wir selbstverständlich flankierende Massnahmen, können uns aber nicht immer selber um alles kümmern.

Die Abzocker zocken weiterhin freundeidgenössisch im Verhältnis 1:13 und das Stimmvolk ist stolz darauf. Überhaupt waren die Skandale im allgemeinen wieder so, dass sie von der demokratischen Mehrheit bereits vergessen sind. Diese fühlte sich von ihrem Wohlstand sanft gehalten, und die Durchgeknallten dekompensierten sozialverträglich (oder stationär). Und nicht vergessen wollen wir in Dankbarkeit: Der SC Bern wurde Schweizer Meister.

II. Man soll die Feste feiern, wie sie fallen

«Wir sind», hat der Ökonom Niko Paech am 3. Dezember 2013 in einem Interview mit dem «Bund» gesagt, «wie im Endstadium einer Heroinsucht: Der Süchtige hat seine klaren Momente, in denen ihm bewusst ist, dass er sich zugrunde richtet; aber dann wird das Verlangen wieder übermächtig.»

Paechs Buch heisst «Befreiung vom Überfluss». Seine eine These: Wachstum sei ein Mythos, der süchtig mache, Rohstoffe vernichte und die Umwelt zerstöre. Und die andere: Die Alternative dazu sei nicht die Green Economy, sondern die «Suffizienz» – ein «entschleunigtes, entrümpeltes und dadurch einfaches Leben».

Vernünftig, bloss: Hierzulande machen in den Parlamenten die abgefahrensten Junkies Drogenpolitik, und das Volksfest in der Sackgasse lockt täglich mit neuem Feuerwerk. Ich machte in diesem Jahr häufiger lange Spaziergänge und habe es geschätzt, dass man für die Luft ausserhalb der Ballons immer noch nicht bezahlen muss.

III. Der Kater kommt später

Es gab in diesem Jahr Abende, an denen ich mich fragte: Jetzt mal ehrlich, Lerch, was hat das heute gebracht? Manchmal wusste ich eine Antwort. Manchmal wusste ich keine. Diese ungeheure Warensammlung, all der Plunder, den alle unablässig konsumieren müssen, damit ihnen beim Produzieren nicht die Arbeit und der Lohn ausgeht. All die Hamsterräder, in denen sie nach dem Geld für die nächste Weltreise hecheln, die sie gezwungen sind zu machen, um das Leben im Hamsterrad wieder ein Jahr lang zu ertragen.

All die Kassenhäuschen, hinter denen alle dauernd zwanghaft Publikum spielen wollen, um beim Klatschen doch wieder einmal ein seelenstärkendes Gemeinschaftserlebnis zu haben. All die geistige Umweltverschmutzung, die den verkabelten Kindern mit den grossen Eierschalen an den Ohren eingetrichtert wird, damit sie ohne Boden unter den Füssen nicht den Halt verlieren.

All die Angst vor dem Moment, in dem die demokratische Mehrheit merken wird, dass das Fest allmählich zu Ende geht.

IV. Eine Käseschnitte gegen den Murgang

Trotzdem tut man als Mitmensch ja das seinige gern und legt sein Scherfchen in den Gotteskasten der Solidarität (Markus 12, 42). Ich zum Beispiel war wie schon letztes Jahr im Heimritz, zuhinderst im Gasterntal, von wo man emporblickt zum Kanderfirn, respektive jetzt auch schon seit vielen Jahren nur noch zu den schwärzlichen, glazial erodierten, klimaerwärmten Felsbuckeln, hinter denen das Eis verschwunden ist.

Hier ist der Gletscher gegangen, dafür ist der Murgang gekommen. Am 10. Oktober 2011 hat er den Talboden mehrere Meter hoch verschüttet, das Flussbett der Kander bedrohlich nahe an das Berggasthaus herangeschoben, ein Drittel des Weidelandes ist weg.

Und eben hat doch ein Sohn von einem Vater die Alp übernommen für die nächsten dreissig Jahre. Wer etwas gegen diesen klimaerwärmten Schicksalsschlag tun will, kann das: mit dem Katalysatorauto bis Selden, dann weiter zu Fuss. Wenn im Heimritz alle eine Käseschnitte essen gehen, kommt vielleicht der Kanderfirn zurück.

V. Meistens liegt das Heimritz hinter dem Berg

Nicht selten sehen die Berge, die vor den Heimritzen dieser Welt stehen, am schönsten aus, wenn man sie von weit oben anschaut, im dunstigen Licht eines Septembermittags zum Beispiel (hier der Blick von der Bunderchrinde, rechts der Eingang ins Gasterntal). Von oben fällt es ja generell leichter, sich des Lebens zu erfreuen: Man hat Ruhe vor Murgängen, Überschwemmungen und Strassenmusikern mit leeren Hüten. Von oben hat man eine Übersicht, zu der die Leute unten einfach nicht fähig sind.

Es geht halt schon auch um Bildung und um Kultur. Oben ist ja auch eine geistige Kategorie. Nur wer den Blick von oben schweifen lässt, ist gefeit vor Neid, Missgunst und Hass auf die anderen, die es auch zu etwas gebracht haben. Was wäre doch die Schönheit, wenn nicht die Freiheit, von so weit oben auf die Welt hinunterzublicken, dass vor und hinter dem Berg nichts das Bild stört? Nur die formale Bewältigung des Blicks von oben ist Kultur, die auf die Dauer Kultur bleibt. Es gibt keine Kultur ohne babylonische Türme.

VI. Im Gasterntal, zwischen Selden und Waldhus

Um ehrlich zu sein: Ich bin zur Kirche ausgetreten. Nein, nicht im jugendlichen Übermut mit zwanzig. Sondern letzthin, um aufs Alter Ballast abzuwerfen. Ich will lieber wenig wissen als viel glauben. Dabei bin ich kein atheistischer Alternativgläubiger, sondern ein liberaler Agnostiker: Gerne gebe ich jedem zu, der’s hören will, dass es meinetwegen einen Gott geben mag. Aber ich habe für dieses Leben entschieden einer zu sein, der seine Käseschnitte im Heimritz ohne Tischgebet isst.

Dass ich in meinem Sechzigsten wohl tatsächlich weniger geradlinig unterwegs war als auch schon, hat im übrigen nicht mit geistlicher Orientierungslosigkeit zu tun, sondern damit, dass man flexibel unterwegs sein muss, wenn man in meinem Beruf ohne einzufädeln noch ein bisschen weiterkurven möchte.

Unterwegs vom Heimritz zurück nach Kandersteg guckte ich einmal gedankenlos in den Himmel. Und siehe da: Wolken, ganz aus Föhn. Schön.