Kämpfe vereinen und in die Öffentlichkeit tragen

von Rahel Schaad 16. Juni 2021

Am vergangenen Montag gingen in Bern am Abend über 30’000 Frauen* (cis, trans, intergeschlechtliche) und nonbinäre Menschen zusammen mit solidarischen Männern auf die Strasse, um ihre Wut und ihre Forderungen auszudrücken. Der schweizweite Frauenstreik 2021 stand unter dem Motto «Respekt! Bessere Löhne, bessere Renten!», doch konkret ging es um viel mehr – wir haben mit einigen Gruppen und Menschen über ihre Anliegen und Forderungen gesprochen.

Der feministische Streik wurde in Bern frühmorgens gleich von zwei Aktionen eingeleitet, bei denen der öffentliche Raum eingenommen wurde um auf den feministischen Kampftag aufmerksam zu machen. Zum einen wurden mehrere Brunnen mit Lila-Lebensmittelfarbe eingefärbt, zum anderen haben Aktivist*innen ungefähr dreissig Strassennamen durch violette Kleber nach Migrantinnen umbenannt, die in Bern aktiv sind oder waren. So hiess beispielsweise die Schauplatzgasse an diesem Tag «Tahmina Taghiyeva Strasse». Tahmina Taghiyeva ist Journalistin und Menschenrechtsaktivistin und engagiert sich bei «Wir alle sind Bern» und kämpft dort für ein kommunales Stimm- und Wahlrecht für Ausländer*innen. Erst kürzlich hat der Grossrat des Kantons Bern entschieden, dass die Gemeinden kein Stimmrecht für alle auf kommunaler Ebene einführen können. In einem Interview mit «Wir alle sind Bern» gibt sich Taghiyeva weiter kämpferisch: «Ich glaube, dass wir viel von den Kämpfen für das Frauenstimmrecht in der Schweiz lernen können» und «wir müssen härter an einer gleichberechtigten Gesellschaft arbeiten.»

Ab dem Mittag versammelten sich diverse Gruppen und Menschen auf dem Waisenhausplatz, es gab verschiedene Aktionen und an einem Stand konnten Transparente und Schilder für die Demonstration am Abend gemalt werden.

Betreuerinnen aus der Kita Tscharnergut und der Kita Bümpliz waren bereits kurz nach dem Mittag mit Transparenten in der Innenstadt unterwegs und demonstrierten für bessere Rahmenbedingungen in der Kinderbetreuung und äusserten ihren Frust gegenüber der Geringschätzung ihrer Arbeit in der Politik und Gesellschaft. Auf einem Transparent stand «Kita ist kein Kinderspiel», auf einem anderen «Sicherheit in Kitas – Nö, der Bund spart». Eine Kitamitarbeiterin erklärte: «Unser Beruf ist nicht einfach ein bisschen ‹Kinder hüten›. Es ist bekannt, dass die ersten zwei Lebensjahre sehr essenziell sind für die Entwicklung eines Kindes und deshalb ist es so wichtig, dass wir unsere Kinder gut begleiten und unsere pädagogische Funktion richtig ausüben können.» Eine weitere Mitarbeiterin ergänzte: «Der Bund muss endlich aufhören, in den falschen Bereichen zu sparen. Kinder sind unsere Zukunft. Kinderbetreuung darf deshalb nicht ein Abfertigen und Stillen der Grundbedürfnisse sein. Wir wollen mit den Kindern arbeiten und interagieren können, das ist für die Kinder sehr wichtig.»  

Betreuungsarbeit ist Bildungsarbeit

Qualität in der Kinderbetreuung erfordere aber mehr Mittel: Konkret bedeutet das ein niedriger Betreuungsschlüssel, mehr öffentliche Gelder und höhere Löhne und ausserdem bessere gesellschaftliche und politische Anerkennung für den Betreuungsberuf. Momentan gehe man gesellschaftlich davon aus, dass Bildung erst im Kindergarten oder in der Schule stattfinde. Dies sei falsch, denn Kitas hätten ebenso eine Bildungsfunktion und gehören zu einer guten staatlichen Infrastruktur. Die Kinderbertreuerinnen forderten deshalb, dass die Kinderbetreuung an die Schule angegliedert wird und dass auch in der Kita Fachpersonen für Kinder mit besonderen Bedürfnissen herbeigezogen werden könnten.

Gerade im Westen Berns sei dies ein grosses Thema, sagt die eine Kinderbetreuerin: «Wir haben viel Integration, wir haben zum Teil Kinder aus schwierigen Verhältnissen und das benötigt besonders viel Begleitung. Es wäre deshalb sinnvoll, wenn wir auch mit Heilpädgog*innen oder Sozialpädagog*innen zusammenarbeiten könnten und wenn unser Betreuungsschlüssel an die Bedürfnisse der Kinder angepasst würde.»

 

Gegen Gewalt an Frauen

Mit einer Installation auf dem Waisenhausplatz mit Transparenten, Plüschtieren, Frauen- und Kinderschuhen machte die Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kindern auf den Platzmangel in Frauenhäusern aufmerksam. Madeleine Pfander-Loder, Leiterin der beiden Beratungsstellen Lantana für sexualisierte Gewalt in Bern und Vista für sexualisierte und häusliche Gewalt in Thun, erzählt, wie knapp die Platzverhältnisse im Kanton Bern momentan aussehen: «Im Kanton Bern verfügen wir über 19 Frauenhäuserplätze. Eigentlich sollten wir 109 haben.» Der Europarat empfehle, dass es pro 10‘000 Einwohner*innen einen Familienschutzplatz geben sollte. Das Anliegen zum Ausbau der Frauenhausplätze sei beim Kanton deponiert, so Pfander-Loder, doch durch die Sparmassnahmen sei die Sache auf Eis gelegt worden.

Eine weitere Lücke besteht nach Pfander-Loder ausserdem beim fehlenden Angebot für Minderjährige. Mädchen und Frauen unter achtzehn Jahren hätten andere Bedürfnisse und bräuchten andere Betreuung als erwachsene Frauen. Deshalb haben Pionierinnen des Verein Meitschihus vor zwei Jahren in Biel ein Pilotprojekt gestartet, das die Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kinder unterstützt hat und eine Motion eingereicht wurde. Aber auch hier ist bisher nichts passiert, da zuerst eine neue Strategie für die Opferhilfe im Kanton Bern bis im Sommer 2022 entwickelt werden soll.

Auf der Website der Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kinder steht, dass jede zehnte Frau in der Schweiz von psychischer, körperlicher oder sexueller Gewalt ihres Ehemannes oder Partners betroffen sei. Nirgends laufen Frauen damit häufiger Gefahr, Opfer eines Gewaltdelikts zu werden, als in den eigenen vier Wänden. Die Ursachen für dieses Gewaltausmass gegen Frauen sieht Pfander-Loder unter anderem strukturell bedingt: «Frauen sind weniger an der Macht und sind öfter wirtschaftlich abhängig. Dies führt zu Abhängigkeitsbeziehungen und hat massgeblich damit zu tun, dass Frauen häusliche und sexualisierte Gewalt erfahren und diese oft über längere Zeit aushalten, weil sie keine Lösungen für sich und ihre Kinder sehen. Deshalb sind alle Forderungen, die wir am heutigen Streiktag stellen – beispielsweise gleiche Löhne, bessere Kinderbetreuungsangebote, damit Frauen berufstätig sein können – wichtige Voraussetzungen, um der Gewalt gegen Frauen entgegenzuwirken: Frauen müssen unabhängig sein und ihr Leben selbstbestimmt leben können.»

 

Sichtbarkeit und Sicherheit für Wissenschaftlerinnen

Um Kritik an Abhängigkeitsverhältnissen und sexueller Gewalt ging es hintergründig auch bei den Anliegen der Gruppe «500 Women Scientists Bern-Fribourg». Diese veranstaltete über den Tag verteilt dreimal an verschiedenen Orten in Bern einen Flashmob, an dem verschiedene Wissenschaftlerinnen einen kurzen Vortrag zu ihrem Forschungsgebiet hielten. Das Ziel der Organisation ist es, Frauen in der Wissenschaft sichtbarer zu machen und damit aufzuzeigen, dass auch Frauen Wissenschaftlerinnen sein können. Denn es sei immer noch ein trauriger Fakt, dass Frauen 52% der Studierenden an den Universitäten, aber lediglich 23% der Professuren ausmachen würden, so Claudia Kasper, eine von den vier Koordinatorinnen des 500 Women Scientists-Netzwerk Bern-Fribourg. Dies habe mehrere Gründe.

«Zum einen spielt immer noch die Kinderbetreuung eine grosse Rolle. Wissenschaft ist ein Beruf, bei dem man sehr viel Energie und Zeit reinstecken muss, um nach oben zu kommen. Es scheint, als ob dies immer noch leichter für Männer ist, als für Frauen», meinte Kasper. Sobald ein gemeinsames Kind da sei, lasse sich häufig auch in vergleichsweise gleichgestellten Beziehungen eine ungleiche Entwicklung im Zeitaufwand für Familie und Haushalt beobachten – zu Ungunsten der Frauen.

Ein wichtiger Faktor für die Geschlechterungleichheit in der Wissenschaft seien aber auch die Arbeitsbedingungen, so Kasper. Zum einen sei das wissenschaftliche Umfeld sehr kompetitiv angelegt und Männer würden, wie es aussieht, besser mit dieser Wettbewerbssituation klarkommen als Frauen. Gründe dafür Kasper sieht in der Sozialisierung und in stereotypen Rollenbildern. Frauen würden eher dazu erzogen, auch mal an die Gemeinschaft zu denken und nicht Ich-Bezogen zu sein. Um die Kompetitivität der Frauen zu stärken, gäbe es zwar extra Coachings für Frauen. Hier stellt sich jedoch die Frage: Müssen sich die Frauen an die Struktur anpassen oder sollte sich das Umfeld ändern? Für Lucia Rotheray, Mathematikerin und selbst Mitglied bei 500 Women Scientists Bern-Fribourg, ist klar: «Stress und Konkurrenz sind auch für Männer ungesund. Es gibt ebenso Männer, welche sich mit diesen Bedingungen nicht wohlfühlen. Es wäre also eigentlich für alle gut, wenn sich das Umfeld ändern würde.»

Zum anderen müsse über den Schutz von Frauen am Arbeitsplatz gesprochen werden. «Es ist immer wieder erschreckend zu hören, wie viele Vorfälle von sexueller Belästigung an Universitäten vorkommen.» Dabei gehe es um ein breites Spektrum von erniedrigenden Aussagen oder verfänglichen Einladungen durch Machtpersonen bis hin zu Vergewaltigungen. «Das grosse Problem sind die Abhängigkeiten in der wissenschaftlichen Struktur. Immer noch kommt es zu oft vor, dass Professoren ihre Macht ausnützen, weil sie wissen, ‹die ist auf mich angewiesen, die braucht mein Empfehlungsschreiben.›» Die Möglichkeit sich zu wehren oder einen Vorfall zu melden sei darüber hinaus kaum möglich, ergänzt Rotheray. Aus den Erfahrungen in ihrem Bekanntenkreis weiss sie: «Oft sind die Leute, die als Ansprechspersonen für Belästigungen gelten, selbst Professoren, Kollegen oder Freunde der Profs. Eine Unabhängigkeit ist kaum gewährleistet.» Die Angst beispielsweise die Doktorandinnenstelle zu verlieren, hindere viele daran, Vorfälle zu melden.

 

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500 Women Scientists Bern-Fribourg fordern deshalb die Einhaltung von Arbeitsrecht, Schutz vor sexueller Belästigung und zudem verbindliche Coachings für Führungspersonen an der Universität in Bezug auf Gender und Diversity. So sollen Person gar nicht erst betreuen dürfen, ohne auf diese Thematik sensibilisiert zu sein und ein entsprechendes Training absolviert zu haben.

 

Das Private ist politisch

Nora Joos und Anna Jegher von der Partei Junge Alternative JA! hatten sich mit Parteikolleg*innen bereits zum Mittags-Picknick auf dem Waisenhausplatz getroffen. Über ihnen wehten violette Streikfahnen im Wind. «Wir wollen den feministischen Streik und seine Inhalte in die Öffentlichkeit tragen und Präsenz markieren, denn der feministische Kampf findet sonst so oft im Privaten statt», sagte Jegher. Joos pflichtete ihr bei: «Es geht um viele Themen, welche im privaten Raum stattfinden und deshalb auch dort ausgetragen werden: Sexuelle Gewalt, Haushaltarbeit, Care-Arbeit. Diskussionen und Kämpfe in diesen Bereichen müssen FLINTA* immer wieder persönlich führen.»

Am feministischen Streik wollten die beiden sich einmal nicht erklären oder diskutieren müssen, sondern einfach wütend sein dürfen. Auch für alle Frauen, Lesben, intersexuellen, non-binären, trans- und agender Personen, die an diesem Tag nicht die Möglichkeit haben. Die immer wiederkehrenden persönlichen Kämpfe sind anstrengend. «Alle FLINTA hätten heute eine Pause verdient», so Joos. Auch Jegher wollte «einfach nur hier sein und mit den anderen FLINTA Motivation und Energie tanken für alle kommenden Diskussionen.»