«Jörg Scheller, sind Sie privilegiert?»

von Susanne Leuenberger 25. März 2023

Berner Reden mit Jörg Scheller findet diesen Montag, 27. März, bei Bühnen Bern statt. Dort wird der Kulturwissenschaftler mit dem Moderator Ijoma Mangold, Journalist und Feuilletonist, über das Thema «Privileg» diskutieren. Susanne Leuenberger hat ihn vorab schon getroffen. Ein Gespräch.

Jörg Scheller, verstehen Sie sich als privilegiert?

Ja und nein. Ich habe etwa Privilegien, weil ich Staatsbürger eines Landes bin, dessen Pass mir erlaubt, fast überall hinzureisen und mich frei zu bewegen. Ich habe Vorteile, weil ich im Frieden und in Sicherheit aufgewachsen bin. Letzteres sehe ich aber nicht als «Privileg», also als verbürgtes Vor- oder Sonderrecht.

Sie sind ein weisser Mann und Akademiker.

Das definieren tatsächlich viele als «Privileg». Ja, ich habe Glück gehabt, aber auch Arbeit reingesteckt, dass ich heute das tun kann, was ich tue und was ich will. Ich würde das nicht als Privileg bezeichnen. Das ist mir zu unscharf und ressentimentgetrieben.

Okay, dann ohne das Wort «Privileg»: Sie sind sozial doch trotzdem anders aufgestellt als viele Frauen* oder BiPoc.

Ich stelle überhaupt nicht in Abrede, dass es grosse Differenzen und Ungleichheiten gibt. Mir geht es in meiner Kritik vielmehr darum, dass das Schlagwort Privileg den Blick darauf versperrt, dass soziale Differenzen auf unterschiedliche Weisen zustande kommen. Einkommen, Bildung, Klasse, aber auch Talent oder Glück spielen genauso rein wie Geschlecht oder Race. Ein weisser Niedriglohnarbeiter ist nicht auf derselben Stufe wie ein weisser männlicher Konzernchef, nicht alle Schwarzen Einwanderergruppen in den USA werden qua Hautfarbe am Aufstieg gehindert. In  der Ukraine wiederum sind die Männer bis 60 gezwungen, im Krieg zu kämpfen, während Frauen das Land verlassen dürfen. Ein entgrenzter Kampfbegriff wie «Privilegien» schliesst nichts auf, im Gegenteil. Mich stört zudem, dass er die sogenannt Unprivilegierten passiv macht. Es macht sie zu Opfern der Umstände und Strukturen.

Inwiefern?

«Privilegiert» wird man stets von oben. Dabei gibt es durchaus soziale Mobilität – die Schweiz rangiert hier sogar unter den Top Ten weltweit. Und «Weiss» und «Schwarz» verfestigen die Stereotypen, die es zu dekonstruieren gälte. Die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal, die ich sehr bewundere, hat es mal so gesagt: Sprache soll nicht nur auf eine Diskriminierungsgeschichte verweisen, sondern muss unbedingt utopisches Potenzial haben. Das fehlt meines Erachtens in der Privilegien-Diskussion.

Aufs Gendern verzichten Sie aber. Wäre nicht dies eine utopische, emanzipative Sprachpraxis, weil sie das generische Maskulinum aufbricht?

Ich plädiere dafür, weniger Energie in die Veränderung der Welt durch Sprache zu investieren, dafür mehr Energie auf die Veränderung der Sprache durch die Welt. Es bringt mehr, dafür zu sorgen, dass mehr Frauen den Arztberuf ergreifen, als ein Sternchen zu platzieren. Verstehen Sie mich nicht falsch: Wenn eine meiner Doktorandinnen ihre Diss mit Gendersternchen schreibt, habe ich damit kein Problem. Ich glaube aber, insgesamt wird dem zu viel Gewicht beigemessen. Nicht jede Person ist reaktionär, die es nicht benutzt. Sprache ist enorm kontext- und situationsabhängig – die Freiheit, dass Menschen sie, idealerweise wohlbegründet, nutzen können, wie sie es für richtig halten, ist mir heilig.

 

«Ich plädiere dafür, weniger Energie in die Veränderung der Welt durch Sprache zu investieren, dafür mehr Energie auf die Veränderung der Sprache durch die Welt.»

Sind Sie eigentlich ein Liberaler?

Ich würde mich als postmodernen Pluralisten bezeichnen. Und ich glaube mehr an Evolution als Revolution. Sanfte, aber hartnäckige politische Veränderungen wie jene der polnischen Solidarność sind nachhaltiger. Die Kollateralschäden gewaltsamer Umstürze sind meines Erachtens zu gross.

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Dennoch spielt Wut, ein durchaus aufständisch gestimmtes Gefühl, eine grosse Rolle für die Aufstiegsgeschichten, die Sie in Ihrem Essay «(Un)check Your Privilege» beschreiben. Etwa die von Rapper Ice-T.

Wut ist für mich dann am produktivsten, wenn sie in konstruktive Arbeit fliesst. Das muss keine Revolution sein. Ein Vorbild ist für mich die Punk-Legende Henry Rollins. Er hat sich mit Wut eine Existenz aufgebaut und sagt: «I put the Punk in Punctual.» Protestantisches Arbeitsethos, Energie, Wut: Das ist für mich kein Widerspruch.

Sie bewundern auch Arnold Schwarzenegger. Was können wir von ihm lernen?

Man kann das Lernen von ihm lernen. Er spricht nie davon, dass er privilegiert ist, sondern reflektiert sehr klar, wie er zu «Arnie» wurde. Er hatte Talent, er hat hart gearbeitet und immer dazugelernt. Aber er hatte auch viel Unterstützung und Menschen, die ihn prägten und förderten. Heute sagt er: «I’m not a self-made man.» Das ist die beste Dekonstruktion des besonders in den USA beliebten Mantras, dass es jede und jeder durch eigenen Willen und Träume allein schaffen kann. Viel präziser als die Rede von Privilegien.

Dieses Interview erschien zuerst bei der Berner Kulturagenda.