Behnaz Götz wohnt mit ihrem Mann und ihrer zweijährigen Tochter in einer modernen Wohnsiedlung in Köniz. Auf dem Tisch steht eine Schale mit Walnüssen und getrockneten Mangos, im Wandregal steht eine auf Persisch beschriebene Taube. Ansonsten erinnert wenig an das Heimatland der jungen Frau. Vor elf Jahren in die Schweiz gekommen, arbeitet die gebürtige Iranerin als Optikerin. Im letzten Jahr hat sie verschiedene Protestaktionen gegen das iranische Regime organisiert. In den Iran, so erklärt sie gleich zu Beginn, kann sie deswegen nicht mehr einreisen.
Journal B: Behnaz, bis zu deinem achtzehnten Lebensjahr hast du im Iran gelebt. Warst du schon damals politisch aktiv?
Behnaz Götz: Wenn du im Iran lebst, ist alles politisch. Du gehst bei 45 Grad auf die Strasse und hast die Knöpfe deiner Bluse nicht bis zu den Händen zugeknöpft – und schon hält dich die Sittenpolizei an. Wenn so stark in deine Privatsphäre eingegriffen wird – wo bleibt da die Möglichkeit und auch die Freiheit, nicht politisch zu sein? Wir haben deshalb als Jugendliche schon viel über Politik gesprochen. Und wir alle haben uns danach gesehnt, dass die Mullahs eines Tages nicht mehr an der Macht sind.
Am 16. September 2022 ging die Nachricht vom Tod Mahsa Aminis um die Welt. Was hat das in dir ausgelöst?
Mahsa Amini war nicht die erste, die von Sicherheitskräften misshandelt und zu Tode geprügelt worden war. Aber mir ist in diesem Moment bewusst geworden: Das hätte auch mir passieren können. Und uns wurde allen klar: jetzt oder nie.
Wurdest du im Iran selbst auch einmal verhaftet?
Zum Glück nie. Ich war aber zweimal kurz davor. Einmal habe ich mit meinem Freund im Auto im Dunkeln geknutscht, als uns die Sittenpolizei erwischt hat. Er wollte abhauen, aber der Polizist hat die Pistole auf die Scheibe gelegt. Sie haben gefragt, wie viel Geld wir dabeihaben und damit haben wir sie dann bestochen. Aber zuerst haben sie uns einzeln verhört. Was mir der Polizist alles gesagt hat… Die schlimmsten Beschimpfungen, die ich in meinem Leben je gehört habe. Dabei kam ich noch glimpflich davon. Was mit den Leuten passiert, die verhaftet werden, ist heftig. Vergewaltigungen und Folter sind da ganz normal. Viele der Leute haben sich umgebracht, nachdem sie gegen Kaution wieder freigelassen wurden. Weil sie einfach nicht mehr damit leben konnten. Es ist wirklich… (verstummt). Wie Mahsa Amini. Sie hat nichts gemacht. Sie hatte ein Kopftuch und lange Kleider an. Ihr Tod kam aus dem Nichts. Der Tod ist so nah an den Menschen, die dort leben.
Wie ging es dir nach Beginn der Proteste?
Einerseits habe ich mich komplett machtlos gefühlt. Mein Bruder und seine Freundin, die im Iran leben, haben beide aus Solidarität ihre Haare komplett abrasiert. Ich wusste, wenn meiner Familie etwas passiert, kann ich nichts tun. Andererseits gab es auch die grosse Hoffnung, dass es einen Regimewechsel gibt. Und das Bewusstsein, dass Veränderung nicht nur von innen erfolgen kann. Dass es internationalen Druck braucht. Die Hoffnung war gross, dass sich gerade die westlichen Länder für die Bevölkerung im Iran einsetzen. Im Nachhinein muss ich sagen, dass das eine Illusion war. Eine Ernüchterung. Wie ein Schlag ins Gesicht.
Das Ganze hat ein Ende, daran zweifle ich keine Sekunde. Aber wenn es keine internationale Unterstützung gibt, wird der Weg einfach unheimlich schwierig.
Auch die Schweiz hat kaum neue Sanktionen übernommen. Begründung war stets, dass sie durch das Schutzmandat eine neutrale Rolle einnehmen muss.
Und sie haben gesagt, es bringe nichts. Für uns klang das wie ein Witz. Denn gerade aufgrund dieses Schutzmandats kommt der Schweiz eine wichtige Rolle zu. Ausserdem gibt sie sich nicht neutral. Kurz nachdem die Schweiz die Sanktionen nicht übernommen hat, gratulierte Alain Berset zum 44. Jahrestag der Islamischen Revolution. Tage später besuchte die Schweizer Botschafterin Qom, eine religiöse Pilgerstadt. Da fühlt man sich schon sehr im Stich gelassen. Das Ganze hat ein Ende, daran zweifle ich keine Sekunde. Aber wenn es keine internationale Unterstützung gibt, wird der Weg einfach unheimlich schwierig.
Wie hast du die Solidarität in der Schweizer Bevölkerung erlebt?
Gar nicht. Schweizer zu mobilisieren, ist sehr schwierig. Ich habe selbst drei Protestaktionen organisiert und vorher Flyer verteilt. Und da hat man gemerkt – für viele ist der Iran einfach viel zu weit weg, gerade im Vergleich mit dem Krieg in der Ukraine. Natürlich kann man sich nicht für jedes Land gleich einsetzen, das verstehe ich auch. Aber Fakt war: es gab kaum Solidarität.
Wie geht es der Protestbewegung in der Schweiz jetzt?
Ich habe die Proteste sehr lange sehr intensiv verfolgt und selbst Aktionen organisiert. Aber irgendwann war meine Energie auf null. So ergeht es allen, egal ob im Iran oder hier in der Schweiz. Man braucht für diesen Kampf, der so ungleich ist, wahnsinnig viel Ausdauer. Und man kann nicht nonstop hundert Prozent geben. Das ist das Ziel des Regimes: uns so fertig zu machen, dass keiner mehr die Kraft hat aufzustehen. Deshalb ist es wichtig, mit den eigenen Kräften zu haushalten, um langfristig weitermachen zu können.
Es gibt jeden Tag unzählige Geschehnisse, die gefilmt und veröffentlicht werden. Allein, dass immer noch so viele Frauen ohne Kopftuch auf den Strassen unterwegs sind. Das braucht wahnsinnig viel Mut.
An diesem Wochenende finden in Genf, Basel und Zürich zum Todestag von Mahsa Amini wieder Aktionen statt. Wie wird es danach weitergehen?
Das hängt sehr stark davon ab, was im Iran passiert. Aber wenn es wieder zu einer Protestwelle kommt, kann ich nicht hier in der Sicherheit sitzen und nichts tun – das kann ich nicht mit mir vereinbaren. Sowieso: In diesem Jahr ist so viel passiert – man kann die Zeit nicht zurückdrehen und tun, als ob nichts passiert wäre. Jetzt liegen alle Karten offen. Der Funken ist übergesprungen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.
Wie ist die Stimmung aktuell im Iran?
Es gibt jeden Tag unzählige Geschehnisse, die gefilmt und veröffentlicht werden. Allein, dass immer noch so viele Frauen ohne Kopftuch auf den Strassen unterwegs sind. Das braucht wahnsinnig viel Mut. Leute, die sich zusammen im Park treffen, Musik machen, Frauen, die singen. Handgeschriebene Flyer, die verteilt werden. Das ist ein sehr kraftvoller Prozess. Und erstaunlich stark. Obwohl alle Angst haben.
Wie ist das Verhältnis zum iranischen Regime?
Das Regime hat jegliche Legitimität verloren. Die Regierung ist bankrott, die Wirtschaft in der Abwärtsspirale. Sie sind so verzweifelt, dass sie versuchen durch Geiselnahmen an Geld zu kommen. In der letzten Zeit sind ausserdem einige skandalöse Sextapes von Mullahs an die Öffentlichkeit gekommen. Die, die allen anderen vorschreiben, wie sie zu leben haben, sind da beim Sex mit Männern zu sehen. Und im Iran steht die Todesstrafe auf Homosexualität! Das gibt den Leuten natürlich zu denken. Diese Bilder bleiben im Kopf.
Kann Religion noch einen Platz im Leben haben, wenn sie so missbraucht wird?
Für mich hat Religion schon viele Jahre keinen Platz mehr in meinem Leben. Wieviel Lüge, Macht und Politik darin steckt, unglaublich. Aber ich kenne auch viele, die noch vor Kurzem ein Kopftuch getragen haben, und sich jetzt aufgrund der Ereignisse von der Religion abwenden. Wenn meine Mutter in diesem Jahr sagte «sprecht mit mir nicht über Gott» – und sie war durchaus ein gläubiger Mensch – wie ist es dann erst bei jungen, studierten Menschen!
Die politische Situation hat uns sehr misstrauisch gemacht, fast schon ein bisschen paranoid. Du fragst dich plötzlich, ist die Person neben mir wirklich eine, die gegen das Regime ist, oder gehört sie zum Regime.
Das Regime versucht immer wieder mit Desinformationskampagnen die Menschen zu beeinflussen. Wie informierst du dich über die Geschehnisse im Iran?
Über Instagram und Twitter. Desinformation erkennst du schnell. Und viele der Medien, die aus dem Ausland berichten, zum Beispiel BBC Iran oder Manoto, sind sehr gut informiert und verfügen über detailliertes Faktenwissen. Es ist eigentlich erstaunlich, in Anbetracht der Propaganda, die das Regime streut, wie gut informiert die Menschen im Iran sind. Auch wahnsinnig kritisch. Die politische Situation hat uns sehr misstrauisch gemacht, fast schon ein bisschen paranoid. Du fragst dich plötzlich, ist die Person neben mir wirklich eine, die gegen das Regime ist, oder gehört sie zum Regime.
Das Misstrauen ist verständlich. Hast du persönlich auch schon Repression durch das Regime hier in der Schweiz zu spüren bekommen?
Persönlich nie. Ich bin mir sicher, dass sie Fotos und Dokumente von mir haben. Aber mehr nicht. Ich denke, wir sind in der Schweiz relativ gut geschützt.
Inwiefern hat sich die iranische Community in Bern durch die Proteste verändert?
Dieses Jahr hat uns sehr stark zusammengeschweisst – mit Hoffnung, mit Angst, mit Durchhaltewillen. Zuvor habe ich in Bern nicht mehr als drei oder vier Iraner*innen gekannt. Nun habe ich wunderbare Menschen kennengelernt und es sind schöne Bekanntschaften entstanden. Das schätze ich sehr.
Bei einer Protestbewegung gibt es aber auch immer verschiedenste Gruppierungen, die gleichzeitig eigene Interessen verfolgen, so zum Beispiel die Gruppe der Modschahedin-e Chalgh-e Iran, eine sektenähnliche Gruppierung, die islamisch-marxistische Ideen verfolgt. Wie sollte man damit umgehen?
Das Aufeinandertreffen dieser verschiedenen Meinungen und Ideologien ist schwierig und herausfordernd. Viele lehnen diese Sekte, die lange auf der Terrorliste stand, ab. Und in erster Linie sollten wir unsere Kräfte gegen das Regime bündeln. Aber persönlich finde ich, dass es zu einer Demokratie dazu gehört, verschiedene Haltungen zu akzeptieren. Das schaffen die Iraner*innen noch nicht so ganz. Aber wir haben es auch nie gelernt. Ich sage oft, wir haben alle einen kleinen Diktator in uns drin. Uns damit auseinanderzusetzen, gehört zu diesem ganzen Prozess. Wir müssen die Revolution zuerst in unserem Kopf durchmachen.
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