Regeln leiten, Regeln grenzen ein. Wer sie nicht einhält, kann nicht anders oder will etwas anderes. Beides trifft zu auf Künstlerinnen und Künstler, auf gestaltende Menschen. Unter den Gestaltenden gab es immer Menschen mit Beeinträchtigungen jeglicher Art, sichtbaren und unsichtbaren. Die einen wurden durch ihre Beeinträchtigung gesellschaftlich definiert und oft in Anstalten verwahrt. Ihr Schaffen galt lange nicht als Kunst. Das ist heute zum Glück anders. Und doch fehlt noch viel bis zur wirklichen Anerkennung dieses Schaffens.
Journal B unterstützen
Unabhängiger Journalismus kostet. Deshalb brauchen wir dich. Werde jetzt Mitglied oder spende.
Im kulturpunkt im PROGR zeigt Claude Haltmeyer bis Anfang Juli eine kleine hochkarätige Ausstellung von Kunstwerken, die Menschen mit Beeinträchtigungen geschaffen haben. Etwa fünfzig Werke dokumentieren Richtungen, Stile, Formen dieser Kunst der letzten hundert Jahre. Sie hängen schwarz-weiss und farbig, gross und klein, in allen möglichen Techniken im Ausstellungsraum, sie nehmen den angrenzenden Gang des PROGR ein und sind durch die Fenster auch im Aussenbereich zu bewundern. Ja, zu bewundern. Die Freiheit, die die Künstler*innen sich nehmen, führt zu aussergewöhnlich berührenden, naiven und elaborierten, energiegeladenen und in sich ruhenden Werken.
Die Ausstellung zeigt eine Auswahl der Sammlung von Rolf Röthlisberger, der betagt in Frienisberg lebt. Die gut 1200 Werke schenkte er dem Kunstmuseum Thurgau in der Kartause Ittingen. 2021 zeigte es eine grössere Werk-Schau, die in einem reichhaltigen Katalog dokumentiert wurde.
Hereinbrechende Ränder
Die Qualität der Bilder und kleinen Plastiken ist ausserordentlich, die begrenzte Zahl erlaubt genaues Hinsehen. Eine Kunst, die üblicherweise am Rand der Szenen, Galerien und Museen hängt, wirkt hier im Zentrum. Das ist schön – und weckt die Frage, was es noch braucht, bis sie hereinbricht und ihren berechtigten Platz in der Mitte auch wirklich einnehmen darf und kann. Der Frage geht der Kurator des Kunstmuseums Thurgau, Markus Landert, am 19. Mai in einem öffentlichen Vortrag nach und eine illustre Runde diskutiert sie anschliessend auf dem Podium.
Markus Landert, Direktor des Kunstmuseums Thurgau, hält das Einführungsreferat «Welches Potential hat die Aussenseiterkunst in Bern und welche Rolle spielen dabei private Kunstsammlungen?». Anschliessend diskutieren Monika Jagfeld (Leiterin Museum im Lagerhaus SG), Claudia Jolles (Chefredaktorin Kunstbulletin), Markus Landert, Reto Sorg (Leiter Walser-Zentrum Bern) und Besucher*innen. Donnerstag, 19. Mai, 19:30 – kulturpunkt im PROGR.
Vor hundert Jahren war es das Büchlein «Ein Geisteskranker als Künstler» des Berner Psychiaters Walter Morgenthaler, das Adolf Wölfli als Künstler anerkannte. Was braucht es heute, um den längst fälligen Schritt zur weiteren Öffnung und «Normalisierung» zu machen? Wir glauben heute, wir seien vorurteilslos und cool – und nehmen doch nicht zur Kenntnis, was uns viel schenken könnte. Claude Haltmeyer zeigt es in einer feinen, begeisternden Ausstellung auf engem Raum. Überzeugen wir uns selbst.
kulturpunkt, PROGR, bis 2. Juli. www.kulturpunkt.ch