«Jeder Mensch hat das Recht, sich zu schützen»

von Janine Schneider 5. Dezember 2023

Vier von zehn Frauen erfahren in ihrem Leben psychische Gewalt. Ein Gespräch mit Wen-Do-Trainerin Jeanne Allemann über Blockaden im Kopf, Gegenwehr und vererbte Scham.

Ich traute mich lange nicht, das Brett wegzuwerfen. Es war aus hellem Holz, unbehandelt und zweigeteilt, zerschlagen in einem Selbstverteidigungskurs für Mädchen, den ich als Zehnjährige mit meiner damals besten Freundin besucht hatte. Das Brett war mir irgendwie unheimlich, genau wie mir der Kurs unheimlich gewesen war, in dem es viel um sexualisierte Gewalt ging. In Wahrheit hätte ich nämlich viel lieber in einer Welt gelebt, in der es keine Gewalt gegen Frauen und Mädchen gab und in der man deshalb auch gar nicht darüber sprechen musste.

Aber gleichzeitig war mir das Brett wichtig, ein Symbol meiner Stärke, schliesslich hatte ich es zerschlagen, wie ich in diesem Kurs auch gelernt hatte, über unangenehme Erlebnisse zu sprechen und in einem Notfall Nasen zu brechen, Ohren abzureissen und vor allem: richtig zu schreien.

An dieses Brett muss ich wieder denken, als mir die Wen-Do-Trainerin Jeanne Allemann ein verdächtig ähnliches Exemplar unter die Nase hält. Sowohl ich als auch die Fotografin dürfen je ein Brett mit der Faust zerschlagen. Kurz vor dem Schlag werde ich wieder so nervös wie damals. Und bin dann froh, dass das Brett genauso in zwei Hälften zerspringt wie vor 16 Jahren. Im darauffolgenden Gespräch mit Jeanne Allemann wird mir klar: So ergeht es allen.

Journal B: Du hast 1986 deinen ersten Wen-Do-Kurs gemacht und damit die Anfänge von Wen-Do in Bern erlebt. Wie hast du diese Zeit wahrgenommen?

Jeanne Allemann: Wir stiessen damals auf viel Unverständnis. Häusliche Gewalt war noch kaum Thema, noch weniger, dass Gewalt gegen Frauen* auch in linken Kreisen vorkam. Ich gehörte zu einer Gruppe von Frauen*, die sich schon damals für feministische Themen engagierten. Wir haben in der Reitschule die Frauen*-Disco organisiert, wollten einen Raum nur für Frauen* schaffen. Das hat zu wahnsinnig viel Aufruhr geführt. Wir wurden stark angefeindet – nur, weil wir Raum beansprucht haben. Aber wir sind einfach drangeblieben. In dieser Zeit entstanden die ersten Anlaufstellen für Frauen*, die ersten Frauenhäuser, Nottelefone und Hilfsangebote.

(Foto: Federica Alberti)

Inwiefern hat sich Wen-Do seither verändert?

Wen-Do hat sich sehr stark verändert. Es war viel radikaler. Ich erinnere mich, dass ich nach dem ersten Kurs, den ich besucht habe, extrem aggressiv war. (lacht) Dass man nicht gleich zuschlagen muss, sondern auch viel mit Körpersprache arbeiten kann, mit Neinsagen, Grenzen-setzen – diese Aspekte sind erst mit der Zeit dazugekommen. Was ich in diesem Zusammenhang heute deshalb auch immer wieder betonen muss: Wir vermitteln bei Wen-Do keine Gewalt. Was wir vermitteln, ist Schutz. Und Schutz ist so etwas Wichtiges. Jeder Mensch hat das Recht auf Selbstbestimmung und das Recht sich schützen zu dürfen.

«Wen-Do» bedeutet «Weg der Frau» und ist eine Selbstverteidigungs- und Selbstbehauptungskunst, die von Frauen* für Frauen* und Mädchen* entwickelt wurde. Mitte der 1980er Jahre kam Wen-Do auch in die Schweiz. Jeanne Allemann war eine der ersten Frauen* in Bern, die Wen-Do unterrichtete. Zuvor hatte sie Soziale Arbeit studiert und unter anderem in Frauenhäusern gearbeitet. Dort traf sie auf viele Gewalterfahrungen und fand: Dagegen muss man doch etwas tun. Heute arbeitet sie immer noch in Bern und begleitet zusätzlich zu den Gruppenkursen Betroffene auch in Einzelberatungen und Coachings.

Auf welche gesellschaftlichen Vorstellungen von Gewalt triffst du in deiner Arbeit?

Es geistert immer noch das Bild herum, dass Frauen* vor allem nachts gefährdet seien und zwar durch fremde Personen, die sie überfallen würden, wenn sie alleine unterwegs sind, jung und noch dazu sexy angezogen. Und das stimmt einfach überhaupt nicht mit der Wirklichkeit überein. Wir wissen heute, dass sich achtzig bis neunzig Prozent der Gewalt im Bekanntenkreis abspielt. Im Alter von 14 bis 20 Jahren passieren die meisten schlechten Erfahrungen von jungen Frauen* in ihrem engsten Umfeld. Häufig erleben Betroffene häusliche Gewalt oder leben in toxischen Beziehungen.

Schon eine kleine Handlung von aussen kann die Gewaltspirale unterbrechen.

Wenn sich Gewalt oft im Privaten zeigt: Was können wir als Gesellschaft dagegen tun?

Hinschauen. Zivilcourage zeigen. Bei übergriffigem Verhalten durch Fremde wie durch Vertraute. Wenn wir am Bahnhof sehen, dass jüngere Frauen* belästigt werden: nicht einfach wegschauen. Oft hilft schon ein Blick oder hinzustehen und Präsenz zu zeigen. Das würde viele schützen. Oder wovon ich oft höre: Dass Männer öffentlich onanieren und einen dabei fixieren. Und niemand reagiert, weil es allen peinlich ist. Oder wenn ein Paar sich massiv streitet: einander niedermacht und in der Öffentlichkeit bedroht. Ich verstehe, dass viele Angst haben. Aber das ist Gewalt und da muss man eingreifen. Es gibt immer eine Möglichkeit. Schon eine kleine Handlung von aussen kann die Gewaltspirale unterbrechen.

Wen-Do vereint körperliche und geistige Selbstverteidigung. Wie läuft so ein Kurs bei euch ab?

Wir reden zuerst darüber, wovor man Angst hat. Manchmal wird da schon von Erfahrungen mit Gewalt erzählt. Und dann zerschlagen wir als erstes ein Brett. Denn viele Frauen* und Mädchen* denken, dass sie körperlich sowieso unterlegen sind und keine Chance haben. Dabei ist es eine Frage der Technik. Und vor allem auch der Bereitschaft, in einem Notfall wirklich zuzuschlagen. Denn alle Blockaden beginnen im Kopf. So ist auch Wen-Do entstanden: Frauen*, die jahrelang Kampfkunst trainiert hatten, konnten sich im Notfall nicht wehren. Es reicht nicht, körperlich dazu fähig zu sein. Du musst dir auch überlegen: Wäre ich wirklich bereit, zuzuschlagen?

Gewalt gegen Frauen ist immer noch ein unglaublich schambehaftetes Thema.

Und wenn man nicht zuschlägt, ist man selbst schuld?

Nein, die Schuld darf nie bei der betroffenen Person liegen! Es darf nie heissen, sie hätte sich doch wehren können. Dann sind wir wieder in derselben problematischen Schuldzuweisung. Schlussendlich weisst du nie, wie dein Körper in einer Schocksituation reagiert. Er hat drei Möglichkeiten: Freeze, Flucht oder Kampf. Und im Vornherein weiss man nie, wie man reagieren wird. (schweigt) Aber ich glaube, dass man es bis zu einem gewissen Punkt trainieren kann. Wenn dich die Angst nicht blockiert, macht sie dich wahnsinnig stark. Und es geht nicht nur ums Zuschlagen. Das ist sogar sehr selten. Es geht darum, schreien zu können, sich getrauen hinzustehen, Nein zu sagen. Auch sich zu trauen, mit dem eigenen Umfeld über solche Erlebnisse zu sprechen. Sie nicht tabuisieren, sich nicht zu schämen. Das ist einfach gesagt, aber sehr schwierig. Gewalt gegen Frauen ist immer noch ein unglaublich schambehaftetes Thema.

Wird diese Scham von Generation zu Generation weitergegeben?

Es wird dir praktisch antrainiert: Wenn du so und so reagierst, bist du selbst schuld. Wenn du dich so anziehst, bist du selber schuld. Damit wird suggeriert, dass es immer einen Grund gibt, dass uns etwas passieren darf. Am Wochenende hatte ich Jugendliche in einem Kurs, in deren Schule in den Kleidervorschriften immer noch festgehalten ist, dass sich Jungs nicht konzentrieren könnten, wenn sie sich zu knapp anziehen würden. Ich meine hallo, was bringt man diesen Jungs bei?!

(Foto: Federica Alberti)

Welche Erfahrungen machen die jungen Frauen* in deinen Kursen mit Gewalt?

In diesem Alter finden leider die meisten Verletzungen statt. Viele der Mädchen* sind in ihrem Alltag sehr betroffen von digitaler und psychischer Gewalt. Wenn ich die jungen Frauen* jeweils frage, ob sie schon mal ein Penisfoto erhalten hätten, sagen 80 Prozent ja. Einige haben auch schon die Erfahrung gemacht, dass Körperfotos von ihnen ungefragt veröffentlich oder sie damit unter Druck gesetzt wurden. Auch das ist unsichtbare Gewalt, die unglaublich viel mit der Psyche macht.

An den diesjährigen Aktionstagen gegen Gewalt an Frauen steht psychische Gewalt im Zentrum. Welchen Beispielen psychischer Gewalt bist du in deinen Kursen bisher begegnet?

In der Einzeltherapie begleite ich zurzeit ein ältere Frau, die seit sechs Jahren von ihrem Ex-Mann gestalkt wird. Sie hat sich mit fast achtzig Jahren nochmals verliebt und den Mut gehabt, ihren Mann zu verlassen. Und er kann ihr das einfach nicht gönnen, schreibt ihr jeden Tag «Liebesbriefchen», in denen detailliert steht, wo sie war und was sie gemacht hat. Das ist massive psychische Gewalt. Am Schluss geht es dabei immer um Macht. Bei psychischer wie auch physischer Gewalt. Im schlimmsten Fall fragt sich die betroffene Person am Schluss, was sie falsch macht, und sucht die Schuld bei sich. Ausserdem ist es wichtig, dass wir erkennen: Psychische Gewalt steht ganz oft am Anfang physischer Gewalt.

Die Zahlen sind erschreckend. 40% der Frauen in Europa sind von psychischer Gewalt betroffen. Jede fünfte wurde schon Opfer von Stalking. Die Formen psychischer Gewalt sind vielfältig: Beleidigungen, Erniedrigungen, Drohungen, Anschreien, Stalking, Einschüchterungen, Morddrohungen und Erzeugen von Schuldgefühlen gehören dazu. Oft bleibt diese Art der Gewalt unsichtbar. Das rechtliche Vorgehen dagegen ist immer noch schwierig. Bisher sind alle Versuche, Stalking gesetzlich strafbar zu machen, gescheitert. Die Stadt Bern nimmt eine Vorreiterrolle ein: Schweizweit ist sie bisher die einzige Stadt mit einer Stalking-Fachstelle. 

Psychische Gewalt steht ganz oft am Anfang physischer Gewalt.

Was kann man machen, wenn man Opfer psychischer Gewalt wird, und wann rätst du, zur Polizei zu gehen?

Ich würde dazu raten, sofort Unterstützung zu holen. Nicht warten und denken, du bildest dir etwas ein. Desto früher du dir Hilfe holst, desto realistischer ist es, dass die Gewalt an diesem Punkt auch stoppt. Desto länger solche Geschichten laufen, desto schwieriger ist es, diese überhaupt noch ohne Polizei oder grossen Aufwand zu lösen.

Eure Kurse richten sich spezifisch an Frauen und Mädchen. Queere Personen sind ebenso willkommen. Bietet ihr auch Kurse für Männer und Jungs an?

An Schulen bieten wir ein Programm namens «Mut tut gut» an, bei dem Männer* mit Jungs* und wir mit den Mädchen* arbeiten. Aber die Kurse, die wir extra für Männer* ausgeschrieben hatten, kamen kaum zustande. Der Zulauf ist gering, wenn es um eigenes Rollenverhalten und kritische Männlichkeit geht. Was mir jedoch auffällt: Zumindest in meinem Umfeld reagieren Männer* sehr positiv auf meine Arbeit, gerade im Vergleich zu den negativen und abwertenden Reaktionen, die ich früher erhalten habe. Nach all diesen Jahren bin ich endlich in einer Zeit angekommen, in der meine Arbeit mit Wohlwollen aufgenommen wird.