Jeder ist jemand – für Verschiedenheit ohne Angst

von Christoph Reichenau 5. November 2021

Warum die Bernische Kulturpolitik Olaf Scholz als Vorbild nehmen sollte – ein Kommentar von Christoph Reichenau.

Vor der Bundestagswahl in Deutschland hat der Kanzlerkandidat der SPD, Olaf Scholz, mit Carsten Brosda, Senator für Kultur und Medien in Hamburg, in der ZEIT einen Beitrag veröffentlicht: «Für den Schulterschluss von Geist und Macht». Vergleichbares habe ich in keinem deutschen Medium gelesen, Kultur war im Wahlkampf kein Thema. Umso auffälliger und erfreulicher, dass Scholz sich äusserte, und dies in einer Art wie es in der Schweiz seit dem Clottu-Bericht vor 50 Jahren nie mehr der Fall war. Scholz/Brosda sagen: Jeder ist jemand (ein Credo des Theatermanns George Tabori), und folgern: Kultur für alle – und mit allen – müsse Wirklichkeit werden.

Zuerst blicken Scholz/Brosda zurück in die Zeit des Lockdowns 2020: «Das unmittelbare kulturelle Erleben, der künstlerisch inspirierte Diskurs, die streitige Auseinandersetzung mit kreativen Irritationen – all das musste in den privaten und digitalen Raum verlegt werden und verlor dadurch seine unmittelbare Wucht. Was dies für eine demokratische Gesellschaft bedeutet, was für Folgen das hat, darüber haben wir zu wenig gesprochen.»

Worüber? «Wie gelingt es uns, ohne Angst verschieden zu sein? Wie sorgen wir dafür, dass Kultur für alle nicht bloss gefordert, sondern tatsächlich erlebbar gemacht wird? Wie schaffen wir Bedingungen, unter denen wir – als offene moderne Gesellschaft – kulturelle Vielfalt als den Reichtum empfinden, der sie zweifellos ist? Und wie können künstlerische Inspiration und Irritation dabei helfen, ohne dafür in den Dienst genommen zu werden?»

Die Überzeugung, Kunst sei zu fördern, ohne dass sie in Pflicht genommen werden dürfe, wird auch mit anderen Worten ausgedrückt: «Kunst und Kultur sind nicht der Kitt eines immer diverseren Gemeinwesens, aber sie können Politik und Gesellschaft dadurch antreiben, genauer hinzusehen und präziser an den Bruchkanten zu arbeiten.»

Im Wortsinn fundamental ist die Aussage der beiden Politiker zur Bedeutung der Kultur: «Kultur ist nicht bloss systemrelevant, sondern im kulturellen Raum liegen die Fundamente, auf denen unser Zusammenleben gegründet ist». Daraus folgt für sie: «Der offene Dialog zwischen Politik und Kunst ist eine zentrale Voraussetzung dafür, dass politisches und gesellschaftliches Gestalten gelingen kann.»

Dies sei möglich, «wenn wir gemeinsam das Politische als das begreifen, was es ist: jener Raum, der sich zwischen den debattierenden Bürgerinnen und Bürgern einer Gesellschaft öffnet und in dem jene Macht entsteht, die demokratisch notwendig ist. (…) Das wilde und freie Denken und Arbeiten der Kunst kann einer Gesellschaft helfen, sich selbst klarer und schärfer zu sehen.»

Zum Glück schweben die Autoren nicht über dem Boden der Realität. Sie beziehen die realen Arbeits- und Produktionsverhältnisse ein und wollen diese verbessern. «Die Freiheit der Kunst zu schützen und zugleich ihre Arbeitsgrundlagen zu sichern – das sind kulturpolitische Kernaufgaben. (…) Mit der Aufnahme der Kultur als Staatsziel wollen wir hier den entscheidenden Hinweis geben. Und wir werden uns darum kümmern, dass unser Sozialstaat um eine Möglichkeit der solidarischen Versicherung gegen Einnahmeausfälle gerade von Künstlerinnen und Kreativen ergänzt wird.»

Und weiter: «Wirksame Kulturpolitik besteht nicht in erster Linie in der Gründung neuer Institutionen, sondern in der Gestaltung der Bedingungen, die das Leben und Arbeiten von Künstlerinnen und Kreativen prägen. Es geht darum, diese gemeinsam zu verbessern und damit auch die gesellschaftliche Relevanz der Kultur klarer ins Bewusstsein zu holen.»

Scholz/Brosda erinnern dann an das Motto «Kultur für alle», das in den 1970er Jahren in Deutschland die Kulturpolitiker Hilmar Hoffmann (Frankfurt a.M.) sowie Hermann Glaser (Nürnberg) postulierten und das in der Schweiz dem Clottu-Bericht von 1975 zugrunde lag. «Wir werden das Versprechen ‚Kultur für alle‘ endlich Wirklichkeit werden lassen: indem wir uns darum kümmern, dass die Vielfalt unserer Gesellschaft in den Programmen, bei den Produzierenden und im Publikum gleichermassen repräsentiert wird. (…) Kunst entwickelt schon längst eine Ästhetik der Differenz, die Vielfalt und Verschiedenheit erlebbar und erfahrbar macht.» Und nochmals, da zentral: «Kunst und Kultur sind nicht der Kitt eines immer diverseren Gemeinwesens, aber sie können Politik und Gesellschaft dadurch antreiben, genauer hinzusehen und präziser an den Bruchkanten zu arbeiten.»

Ohne Angst verschieden sein können – dies wollen Scholz/Brosda für die Menschen in Deutschland erreichen. Sie erneuern Willy Brands Motto «Mehr Demokratie wagen» von 1969 mit ihrem Fazit «Aktive Kulturpolitik (…) ist immer auch aktive Demokratiepolitik!» Nur wer an der Kultur teilhat, nur wer diese mitgestalten kann, hat auch an der Demokratie teil.

Dass so ein Satz, der im Grund das Selbstverständliche ausdrückt, derart visionär wirkt, ist erstaunlich. Er zeigt, wie weit wir – auch hier in der Schweiz – entfernt sind von dem, was wir stets beteuern. Wenn ein kühler Kopf wie Olaf Scholz mit dem nüchternen Ernst seiner politischen Haltung dies verspricht, bedeutet es viel. Und erinnert daran, dass in Deutschland die Künstlersozialkasse, um die wir unser Nachbarland beneiden, von einem anderen nüchternen Sozialdemokraten kurz vor dem Ende seiner Kanzlerschaft geschaffen worden ist, von Helmut Schmidt.

Es sind nicht die leicht entflammbaren Politikerinnen und Politiker, die die wirksamste Kulturpolitik machen, sondern jene, welche die Vielfalt in der Gesellschaft und die Wirklichkeit künstlerischer Arbeit ernst nehmen und sich um offenen Zugang, faire Abgeltung und Absicherung kümmern. Nur das hilft wirklich. Glanz und Trara kommen dann von selbst.

Und Bern? Die Stadt kürzt das Kulturbudget, anstatt zu investieren in Offenheit, Vielfalt, in das Risiko der Entwicklung zum Ziel «Jeder ist jemand». Die Kulturhäuser bedauern zu Recht leer bleibende Sitze, kämpfen aber jedes für sich. Wo bleiben die Politikerinnen und Politiker, die Künstlerinnen und Künstler, die Intendantinnen und Intendanten, die Stiftungsrätinnen und Stiftungsräte, die aus der Scholz’schen Überzeugung handeln: «Der offene Dialog zwischen Politik und Kunst ist eine zentrale Voraussetzung dafür, dass politisches und gesellschaftliches Gestalten gelingen kann»? Wo ist ein gemeinsamer Aufbruch zu spüren, ausser etwa im Projekt Museumsquartier? Wo finden sich die genannten Verantwortlichen zusammen, um nachzudenken und ihre Gedanken öffentlich zur Diskussion zu stellen? Es gibt, wir wissen es alle, kein Zurück zur Zeit vor Corona. Das ist gut, denn damals stand, weiss Gott, nicht alles zum Besten. Es war bloss das, was wir kannten.

Nun kann man einwerfen, es sei billig, die Verantwortung den sogenannt Verantwortlichen zuzuspielen. Das würde stimmen, wenn nicht Journal B seit Beginn der Pandemie wiederholt Fragen gestellt, Probleme benannt und Vorschläge gemacht hätte. Ohne Reaktion. Deshalb ist es logisch, hier auf die trotz ihrer grossen Flughöhe überzeugenden Sätze von Olaf Scholz hinzuweisen.