Drei Menschen steigen die Treppe hinunter, einer von ihnen bleibt stehen und sagt: «Ich kann auch zum Fenster hinausspringen.» Er öffnet das Fenster, steigt auf den Sims und springt.
Das ist keine Filmszene. Das ist Ali Ochsenbeins Alltag. Seine Mutter winkt ab: «Aufhalten kann ich ihn sowieso nicht.» Der Sprung sei noch harmlos. Der 15-Jährige landete zwei Meter weiter unten auf einem federnden Trampolin. Mehr Herzklopfen hat sie, wenn ihr Sohn richtig hoch springt, mit Saltos, Loopings und stilvollen Verrenkungen. Ali ist Snowboarder. «Freestyle-Snowboarder», präzisiert er.
Freestyle erfordert Disziplin
Ali dreht den Kopf zur Seite. Sein Genick knackt leise. Andere machen dasselbe Geräusch mit Finger- oder Fussgelenk. «Das geschieht, wenn ich länger sitze», erklärt er. Dass er nicht viel sitzt, lässt sein Körper erahnen: gross gewachsen, kräftige Schultern, athletisch. Seinen Körper formt er nicht «freestyle», sondern mit Disziplin. «Montag Skate und Kondi, Dienstag Kraft und Akrobatik, Mittwoch Skate, Donnerstag Kraft und Kondi, am Wochenende Training im Schnee.» Ali hält kurz inne. «Freitag Regeneration.»
«Ich glaube, er hat ein bisschen Angst um mich, auch wenn er es nicht immer zeigt.»
Ali Ochsenbein
Vor dem Fenster parkt ein Pizza-Bote sein Mofa. Das Essen wird zum Thema: «Man könnte es als mein Hobby bezeichnen. Ich wäre wahrscheinlich eines der dicksten Kinder, wenn ich nicht so viel Sport machen würde.» Ausser Bananen esse er alles gern, Pizza für das Gemüt, und scharfe Speisen ganz besonders. «Ich bin halb Araber», begründet er seine Vorliebe. Der Vater, ganz Araber, esse noch viel schärfer. Der sei auch recht sportlich. «Früher arbeitete er als Bodyguard.» Dass der Beschützerinstinkt den Sohn mit einschliesst, spürt Ali manchmal. «Ich glaube, er hat ein bisschen Angst um mich, auch wenn er es nicht immer zeigt.»
Vermutlich liesse sich Ali auch von einer konstant gezeigten elterlichen Sorge nicht von seiner Leidenschaft abbringen. Seit zehn Jahren steht er auf dem Brett, seit drei Jahren fährt er Wettkämpfe und seit dieser Saison ist er im «Rookie Team», dem Junioren-Kader der Schweizer Nationalmannschaft. «Babe» heisst sein Verein. Ein Lächeln umspielt seine sonst ernsten Gesichtszüge. «Das klingt komisch, ich weiss. Es steht für Boarding Association Berne.»
An der letztjährigen Schweizermeisterschaft war er unter den besten fünf platziert. «Es gibt bessere als mich», kommt Ali einem Lob zuvor. Seine Worte klingen nicht nach jugendlicher Koketterie. Mit geradem Rücken sitzt er auf dem Stuhl, rühmt Shaun White («der beste Fahrer») und dessen «Tricks», zeigt Aufnahmen von anderen Freestylern und rückt so ein Stücklein aus dem Rampenlicht.
In der Luft wird alles still
Dann steht er doch auf der Rampe, die Blicke der Zuschauer auf ihn gerichtet. Er fährt auf eine Schanze zu und fliegt, 7 Meter hoch, 25 Meter weit. Die Muskeln sind angespannt, die Musik aus den Kopfhörern von Konzentration überblendet, die Aufmerksamkeit gilt nur noch der Höhe, der Distanz, der Haltung in der Luft. Jede kleinste Körperbewegung wird registriert. So etwa stellt man sich das Fliegen vor, wenn Ali davon erzählt.
Nach unzähligen Sprüngen weiss er heute schon unmittelbar nach dem Absprung, ob er «gut in der Luft» ist. «Wenn der Absprung gelingt, ist es ein schönes Gefühl. Still irgendwie. Habe ich Schieflage, kommt mir der Sprung ewig lange vor, dann geht mir alles Mögliche durch den Kopf. Ich sehe Bilder von Knochenbrüchen und vom Spital.» Doch Ali kennt seine Stärken: «Ich kann mich immer irgendwie auffangen. Die Orientierung in der Luft lerne ich auf dem Trampolin.»
«Ich sehe Bilder von Spital und Knochenbrüchen.»
Ali Ochsenbein
Ali springt ein paar Mal hoch und setzt schliesslich zum Salto an. Das Trampolin steht im Brückfeld, umrahmt von Hecken und einer Sandsteinfassade. Die Fassade gehört zum Haus, das der Junior-Sportler mit seiner Familie bewohnt. Von seinem Zimmer aus überschaut er den Garten. Im Gras sonnt sich eine Katze. Sushi. «Sie ist aus dem Nachbarshaus.» Dort wohne Luca, sein bester Kollege. Kein Freestyler. «Mit ihm spiele ich manchmal Fussball. Wir sind zusammen hier aufgewachsen.»
Mit einem anderen Kollegen macht er gelegentlich Kampfsport. Ali demonstriert, wie das aussieht, so ein Kampf. Eine Mischung aus Breakdance («habe ich früher mal gemacht») und Kung-Fu. Bei der Landung rutscht er im nassen Gras aus und bleibt mit ausgestreckten Beinen sitzen. Er rückt sein T-Shirt zurecht.
Einführung für Laien
«Nitro» prangt als Schriftzug auf seiner Brust. Sein Sponsor. Denselben Schriftzug wird er ein wenig später sorgfältig auf die Vorderseite seines Snowboards kleben. Ausrüstung und Skipässe gehen ins Geld. «Es braucht schon etwa ein bis zwei neue Bretter pro Jahr, wenn man Wettkampf fährt.» Die Abnützung auf den «Rails» sei gross.
Rails ist einer von den einfacheren Begriffen, die bei Laien nur vage Vorstellungen auslösen. Schwieriger ist es, sich die «Längsachsenverschiebung des Körpers über dem Brett und die Querachsenverschiebung» vorzustellen. Ali zeigt Verständnis. Er legt ein Blatt Papier vor sich auf den Tisch. Zuerst denkt er. Dann zeichnet er. Ein Strichmännchen und ein U-förmiges Gebilde. «Das ist eine Halfpipe», sagt er. Sie ist eine von seinen zwei Sport-Disziplinen. 8 Meter hoch, 150 Meter lang. «Auf der einen Seite fährt man runter, auf der anderen wieder hoch.» Angereichert werden die Wendepunkte mit technischen Tricks in der Luft. «Die Kanten des Bretts müssen in der Halfpipe messerscharf sein, damit man auf den 90-Grad abfallenden Pisten guten Griff hat.»
Über Tables und Schatten springen
Auf einem neuen Blatt Papier zeichnet Ali die zweite Disziplin auf: «Slope-Style». Der Fahrer absolviert einen Parcours mit verschiedenen Hindernissen. Zuerst fährt er auf eine Schanze zu, springt und überfliegt ein «Table», eine 25 Meter lange Fläche. Nach der Landung folgen die «Rails», Stangen in allen Variationen: gerade, zickzack, gekrümmt, mit oder ohne Wölbung. Der Fahrer gleitet über sie hinweg. Ali nennt das «Slide». Das Bild lässt erahnen, warum Freestyler zwei Bretter pro Jahr verbrauchen.
Gerade, zickzack, gekrümmt, mit oder ohne Wölbung. Der Fahrer gleitet über sie hinweg.
Sarah King
Dass bei diesem Sport auch der Mensch Schaden nehmen kann, ist Ali bewusst. «Auf dem Table sollte man nicht landen. Das ist hart wie Beton. Es ‚verchlepft’ dich.» Mit der richtigen Technik und mit Training beugt er vor. «Der Körper ist aber nicht mein Problem.» Ali schaut auf. «Es ist das Mentale. Ich habe oft Angst, dass ich stürze. Das muss ich mir noch beibringen – diese Angst zu überwinden. Über meinen Schatten zu springen.»
Risiken auf der Piste und um das Haus herum
Der eigene Schatten scheint bedrohlicher als 25 Meter lange Tables. Ali hatte bisher Glück. Seine Stürze sind glimpflich verlaufen. Einmal sei er auf das Genick gefallen. Er zuckt mit den Schultern. «Ein bisschen die Wirbelsäule verschoben, meinte die Masseurin.» Dann war da noch eine mittelschwere Gehirnerschütterung. «Vorlage, Kante eingehängt und im Spital aufgewacht», fasst er zusammen, was er aus zweiter Hand weiss. Er selbst erinnert sich nicht an den Sturz.
Ansonsten hatte er keine grösseren Unfälle. «Nur die eine oder andere kleinere Gehirnerschütterung.» Pause. «Und eine gequetschte Rippe.» Die Risiken des Sportlerdaseins.
Tierliebe und Bruderstolz
Ali minimiert Risiken, indem er Gefahren einschätzt. Aus sicherer Entfernung beobachtet er Momo, eine schwarzweisse Katze, die um das Haus schleicht. «Sie gehört uns. Sie ist sehr gefährlich, eine Kampfkatze. Ich würde sie nicht streicheln.» Ein bisschen lauter kommen die Worte daher als sonst. Mit seinem Hund «Ramses» hingegen pflegt er ein inniges Verhältnis. Sanft streicht er mit den Zehen über das Fell des kleinen Yorkies. «Er jagt manchmal Füsse unter dem Tisch. Wenn sie sich bewegen, packt er zu.» Vermutlich wird Ramses Jagd-Trieb eifrig belohnt in der bewegungsfreudigen Familie.
Ali ist nicht der einzige Sportler. Stolz zählt er die Sportarten seiner Brüder auf. Downhillbiking, Canyoning und Paragliding zum Beispiel. «Die Brüder sind meine Vorbilder.» Der ältere trainiert ihn im Freestyle-Snowboarden, der jüngere unterstützt ihn bei Mathematik-Aufgaben. Denn auch das gehört zu Alis Alltag: Das Sport-Gymnasium. «Vielleicht will ich mal Gymer-Lehrer sein.» So genau habe er sich das aber noch nicht überlegt.
Vorerst steht ein Trainingswochenende in Saas Fee vor der Tür. Aber noch ist Freitag. Regeneration. Ali neigt den Kopf. Es knackt.