Ist der Apfel reif oder überreif?

von Christoph Reichenau 27. Mai 2019

Am zweiten Podium zur Erweiterung des Kunstmuseums Bern kamen Fachpersonen des Bauens und Planens zu Wort. Es ging auch um die Umgebung des KMB und die noch unbestimmte Idee einer «Kunstmeile Hodlerstrasse».

Ausgangslage: Das Kunstmuseum Bern (KMB) benötigt eine Erweiterung primär für die Kunst der Gegenwart in Beziehung zur gesamten Kunstsammlung. Eine Machbarkeitsstudie zeigt drei Varianten:

– Der Atelier 5-Trakt, 1983 eröffnet, wird umfassend saniert.

– Der Trakt wird durch einen Neubau ersetzt.

– Zusätzlich zur Sanierung bzw. zum Neubau kann das KMB einen Teil des bestehenden Bürogebäudes der Polizei (Hodlerstrasse 6) nutzen, wenn die Polizei ca. 2026 nach Niederwangen ausgezogen sein wird.

In allen Varianten besteht die Überzeugung, die Hodlerstrasse solle im Sinne einer «Kunstmeile» aufgewertet werden.

Darüber diskutierte am 22. Mai eine Runde von fünf Fachpersonen, moderiert von «Bund»-Redaktor Bernhard Ott. 

Die Kunst vor allem

Otts letzte Frage hatte es in sich: Welchen Beitrag zur Lebensqualität in Bern leistet die Erweiterung des KMB, beziehungsweise die ins Auge gefasste «Kunstmeile Hodlerstrasse»? Denkmalpfleger Jean-Daniel Gross erwartet ein interessantes Angebot für die Bevölkerung, das zugleich attraktiv ist für Touristinnen und Touristen. Franziska Hügli (Hügli Consultant, Beraterin von KMUs und Mitglied im Stiftungsrat der Stiftung Kunsthalle) sieht mehr Möglichkeiten für die Kunst. Rainer Klostermann (Partner der Städtebau- und Architekturfirma Feddersen & Klostermann, Zürich) geht davon aus, die bauliche Erweiterung werde ein architektonisches Highlight, wichtig sei aber vor allem die Arbeit der Kuratorinnen und Kuratoren im KMB: Auf den Beitrag der Kunst komme es vor allem an.

Sind dies nun kraftvolle Statements für eine zwingende Erweiterung des KMB, die unter dem Schlagwort «Kunstmeile Hodlerstrasse» ausgreift in die unmittelbare Umgebung? Die gefühlt am häufigsten verwendeten Wörter in der Podiumsdiskussion waren «pragmatisch» und «Pragmatismus»; der Duden erklärt: sachbezogen, auf Tatsachen beruhend, im Rahmen des Möglichen.

Pragmatisch

Pragmatismus ist das Gegenteil des kühnen Wurfs; pragmatisch bedeutet das Suchen einer möglichst Viele einbeziehenden und für sie Nutzen stiftenden Lösung, ausgerichtet auf Konsens und das heisst Kompromiss. Entsprechend standen sich in der Diskussion nicht Vertreterinnen und Vertreter sich gegenseitig ausschliessender Auffassungen gegenüber, sondern – wohltuend – lösungsorientierte Realistinnen und Realisten. Dies kam bereits im ersten Votum Rainer Klostermanns zum Ausdruck: Er verkleinerte die «Meile» (1‘600 Meter) rein rechnerisch auf die 300 Meter, um die es zwischen Schützenmatte und Waisenhausplatz geht. Und er verstand den Ausdruck «Meile» allgemein eher kommerziell (was er hier jedoch nicht für wünschbar halte), überliess es aber den Bernerinnen und Bernern, die Bedeutung zu bestimmen.

Für Franziska Hügli ist die Stadt weitgehend gebaut. Dennoch kämpfe sie im Stiftungsrat der Stiftung Kunsthalle (die nicht die Kunsthalle betreibt, aber aus deren Ausstellungen regelmässig Werke ankauft und diese dem KMB zur Verfügung stellt) für eine Erweiterung des KMB. An der Hodlerstrasse gehe es für sie nicht primär um Business. Die Museen Berns könnten nicht wie Perlen an einer Kette aneinandergereiht werden. «Meile» sei folglich ein irreführendes Bild, eher gehe es um Verbindung und Vernetzung. Vernetzung böte auch dem Gewerbe neue Möglichkeiten. Wichtig sei die Steuerung des Verkehrs, die Steuerung der Leute.

Hodlerstrasse

Verkehrsplaner Karl Vogel sieht einen Glücksfall in der Idee, die Schützenmatte mit dem Waisenhaus- und Bärenplatz zu verbinden. Er verweist auf die guten Erfahrungen 2018 mit Buvetten vor KMB und PROGR. 2019 sind für zwei Monate weitere Aktionen vorgesehen. Bereits beim heutigen Verkehrsregime sei es möglich, dass das KMB künstlerische Interventionen auf das Trottoir und in die Strasse trägt. Dafür könnten zum Beispiel kleine Podeste wie Inseln im Verkehrsfluss aufgebaut werden, «etwas Kunst- und Kulturmässiges, zu dem man hingezogen wird». Sein Plan: Die nächsten zwei Jahre ausprobieren und diskutieren und anschliessend den Mut haben, etwas zu wagen. Wie der an 2-3 Stunden pro Tag dichte Autoverkehr reduziert oder (Idee eines Tunnels zur Genfergasse) umgeleitet werden könnte, ist offen, aber für neue Lösungen nicht entscheidend. Rainer Klostermann findet, Bern müsse sich bei Vogel für dessen Idee bedanken. Sie zu realisieren verlange ein Miteinander aller Beteiligten; darin liege die Zukunft.

Jean-Daniel Gross erinnert an die Entstehung der Hodlerstrasse im 19. Jahrhundert, als Boulevard ein Pendant zur Bundesgasse. Hier ist ein Ort mit grossem Potential, Kunst zu zeigen: Gut erschlossen, ein toller Altbau (Salvisberg), repräsentative Gebäude in der Nachbarschaft. Ein Neubau an der Stelle des Atelier 5-Trakts trage an sich zur Aufwertung der Hodlerstrasse bei.

Rainer Klostermann stimmt zu. Anders als bei den Zusatzbauten des Kunstmuseums Basel und des Kunsthauses Zürich sind in Bern zum Altbau keine Strassen zu untertunneln. Und der Aaretalhang kann einbezogen werden, wenn auch das Wäldchen geschützt ist. Auf Bernhard Otts Hinweis auf den Gerüstturm, den Ronny Hardliz vor ein paar Jahren für die Stadtgalerie am Brückenkopf der Lorrainebrücke aufbaute, um neue Einblicke in die Umgebung zu öffnen, überlegt Klostermann, man könnte einen Künstler wie Roman Signer beiziehen.

Nun kann sich das Publikum per Handy und Zettel äussern, ob es eine verkehrsfreie Hodlerstrasse wünsche. Die Meinungen pro und contra halten sich die Waage. Erstaunen unter den Leuten auf dem Podium, die von einem klaren Ja ausgegangen sind und nun versuchen, «verkehrsfrei» als autofrei zu interpretieren.

Ein reifer Apfel

Für Christopher Berger braucht es kein Schlagwort wie «Kunstmeile». Die Hodlerstrasse verbindet zwei Plätze (Schützenmatte und Waisenhausplatz), auf denen je eine Kulturinstitution steht (Reitschule und PROGR). Man könnte die Einmündung der Hodlerstrasse in die Schützenmatte leicht ändern. Damit erreichte man eine Aufwertung des Brückenkopfs der Lorrainebrücke als Gegenüber von Brechbühlers GIBB. Er fände es falsch, PROGR und KMB räumlich zu verbinden. Beide Häuser hätten unterschiedliche Aufgaben. Ihre Nähe sei richtig, weitergehende Verbindung nicht sinnvoll. Nach 20 Jahren der Planung sei die Erweiterung des KMB ein reifer Apfel, den es unter den heute gegebenen Verhältnissen zu pflücken gelte.

Ersatz des Atelier 5-Trakts?

Zurück zum Bau: Darf der Atelier 5-Trakt überhaupt ersetzt oder muss er erhalten werden? Aus diesem sind das Institut für Kunstgeschichte der Universität mitsamt der Bibliothek ausgezogen. Schon früher fand das Kino im «Rex» an der Schwanengasse neuen Raum. Der Trakt entspricht nicht neuen Anforderungen der Erdbebenfestigkeit und die Klimaanlage funktioniert nicht mehr lange.

Jean-Daniel Gross erläutert die Rechtslage: Ein Neubau ist möglich, wenn der Altbau nur mit unverhältnismässigem Aufwand erhalten werden kann und ein Neubau ästhetisch gleichwertig ist. Er lässt durchblicken, die Unverhältnismässigkeit des Erhalts sei erwiesen. Über die Qualität des Neubaus müsse der Architekturwettbewerb entscheiden. Gefragt, weshalb er als Material für den Erweiterungsbau ausdrücklich Sandstein ins Spiel gebracht habe, erwidert Gross, man könne mit jedem Material zeitgenössisch bauen, auch mit Holz oder eben Sandstein. Wichtig sei es, das Potential des Ortes zu nutzen und den Blick auf die Aare und auf das gegenüberliegende Ufer zu ermöglichen – wie dies (so Christopher Berger) seit langer Zeit an diesem Hang mit Plattformen und Baumgruppen immer wieder geschehen ist. Rainer Klostermann nimmt den Gedanken auf: Die verschiedenen Abteilungen des KMB könnten anstatt in einem einzigen Gebäude in mehreren kleineren Pavillons untergebracht werden und selbständig funktionieren. Christopher Berger antwortet auf die Frage des Moderators nach einem flexiblen modularen Museumsraum: «Alleskönner» hätten in der Regel keinen Charakter. Und wenn immer wieder im Innern umgestellt werden müsste, stelle sich die Frage der Praktikabilität und der Kosten im Betrieb.

Franziska Hügli kommt auf das Bild des Apfels zurück und findet ihn gar überreif. Man solle jetzt die mögliche Erweiterung verwirklichen. Dabei müsse es gelingen, etwa dem Gewerbe zu erklären, dass auch ein Leuchtturm-Projekt wie das KMB nicht ohne Verständnis für das Gewerbe angegangen wird, sondern mit Sensibilität für dessen Bedürfnisse und Anforderungen – etwa punkto Nutzung der Hodlerstrasse. Die Hodlerstrasse muss dem KMB wie dem Gewerbe gerecht werden. Sie konstatiert in dieser Beziehung erfreulichen Pragmatismus der Stadtbehörden. Und Karl Vogel fasst das in den letzten Jahren Gelernte zusammen: Dialog, Dialog, Dialog.

Christopher Berger stellt schliesslich die Gretchenfrage: Was braucht, was will das KMB? In welche Umgebung will es sich einbetten? Wie stellt es sich den Betrieb vor? Wie wird dies finanziert? Ist man einmal soweit, ist ein Bau legitimiert und weitgehend bestimmt.

Das Publikum

Stand den Anwesenden am ersten Podiumsgespräch vom 15. Mai eine Viertelstunde für Fragen ans Podium offen, fiel diese Möglichkeit beim zweiten Mal weg. Stattdessen konnte, wer wollte, per Handy jederzeit Fragen, Bemerkungen, Ideen posten, die projiziert wurden, aber kaum Reaktionen auslösten und auslösen konnten. Zwischenhinein war man auch aufgefordert, drei Minuten mit der Nachbarin oder dem Nachbarn etwas zu besprechen und das Ergebnis zu mailen. Für Leute wie mich eher eine Spielerei als ein ernsthaftes Angebot. Und kein Beitrag zur laufenden Diskussion.

Wie weiter?

Am 4. Juni um 18 Uhr debattieren Stadtpräsident Alec von Graffenried, Erziehungsdirektorin Christine Häsler, Unternehmer Jobst Wagner (Präsident der Stiftung Kunsthalle), Kunstsammler Uli Sigg sowie Jörg Schulze (Agentur maze) über das «Kunstmuseum der Zukunft»; Moderation Marta Kwiatkowski Schenk, Gottlieb Duttweiler Institut, Rüschlikon.

Die Eindrücke der drei Podiumsdiskussionen, die Rückmeldungen der Leute, die Ergebnisse eines Workshops und Antworten auf eine Online Umfrage werden im Sommer ausgewertet. Was dabei herauskommt, wird am 10. September öffentlich vorgestellt. Dabei wird auch klar gemacht werden, wie es bezüglich Architekturwettbewerb (der Ende 2019 lanciert werden soll) und Finanzierung weitergeht.

Ein offener Punkt: Wenn gemäss Karl Vogels Aussage erst in zwei Jahren klar sein soll, wie die Hodlerstrasse aufgewertet wird, dann fehlt – gerade unter dem Stichwort «Kunstmeile» – für den Architekturwettbewerb eine wichtige Grundlage.