Parkour ist laut Wikipedia eine Bewegungsart, die einen nur durch Einsatz des Körpers auf dem schnellstmöglichen Weg von A nach B führt. Es geht darum, die beste Linie zu finden und Hindernisse effizient zu überwinden. Parkour ist Ende der 1980er Jahre in Frankreich entwickelt worden. Wer den Sport betreibt, wird «traceur» oder «traceuse» genannt, der oder die, welche die Linie bestimmt. Parkour setzt Kraft, Ausdauer, Geschicklichkeit, Körperbeherrschung, Mut voraus. Auf der gewählten Linie über Hindernisse, entlang Kletterstrecken und dergleichen sind auch Sprünge erforderlich und Landungen auf ungepolstertem Grund. Der «traceur», die «traceuse» benötigt einen harten Körper, sie und er muss schonend landen können, denn als Grundsatz gilt: die Umgebung ist, wie sie ist, rau, hart, unwirtlich.
Zur selbständigen Szene geworden
In der Schweiz ist in Aarau 2008 der Parkourverein NURF (steht umgekehrt für F-Run, Free Run) gegründet worden. Die Leitenden waren sehr jung. 2015 gestalten sie den Parkour Park als Teil des Rolling Rock & Sportcenters. 2019 entstand das Tanz- und Parkour Kollektiv «InQdrt» (InQuadrat). Die Choreographin Isabelle Spescha aus Aarau verband die Bewegungsformen von Parkour als Sport mit der Körperästhetik von zeitgenössischem Tanz. Zusammen mit der Dramaturgin Rebecca Frey und dem Berliner Musiker und Tontechniker Giacomo Mattogno entstand das Stück «Junge bleib am Boden» sowie 2022 die erste Bühnenproduktion «WANNANDERS».
Parkour bezweckt den raschen Weg von A nach B; es geht – militärisch angehaucht – um Effizienz. Tanz ist Ausdruck, Aussage mit dem Körper.
2020 lud die von Peter-Jakob Kelting geleitete Bühne Aarau das Kollektiv in die Alte Reithalle ein. Ungewohnt, eine plane, freie Fläche zu bespielen, begann «InQdrt» damit, eigene Gestelle zu bauen, an denen performt werden kann, drinnen und draussen. Auf der Bühne wurde der Auf- und Umbau der Gestelle zur selbständigen Szene.
Hart und weich – Effizienz und Ausdruck
Parkour bezweckt den raschen Weg von A nach B; es geht – militärisch angehaucht – um Effizienz. Tanz ist Ausdruck, Aussage mit dem Körper. Beides zu verbinden bedingt, dass der «traceur», die «traceuse» zum Tänzer wird, zur Tänzerin. Das verlangt, mehr inhaltlich über die Bewegung nachzudenken: Worin besteht die Absicht? Welche Energie kann ich einsetzen? Wo braucht es eine Pause? Auf welchem Weg geht es weiter? Will ich eine Mauer überwinden oder nutze ich sie, um mich davon abzustossen? Eine Haltung der Neugier ist nötig, des steten Wissenwollens.
Wichtig ist, dass die für Parkour nötige Härte des Körpers ergänzt wird durch eine Weichheit, die für den tänzerischen Ausdruck unentbehrlich ist. Entsprechend haben die Mitglieder des Kollektivs ihr Selbstverständnis erweitert: Sie sind Traceure und Tänzerinnen und Tänzer.
Isabelle Spescha schreibt dazu: «Unsere Identitäten bilden sich im Spannungsverhältnis zwischen unserer Körperlichkeit und den Communities und Räumen, in denen wir aufwachsen, uns entfalten und bewegen. (…) Der Bühnentanz erweitert sich um die spektakulären und einfallsreichen akrobatischen Interaktionen der Tänzer mit ihrem Bühnenraum.»
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Die Stanley Thomas Johnson-Stiftung mit Sitz in Bern vergibt seit 2013 anlässlich der Verleihung der BAK-Preise für Darstellende Künste den June Johnson Newcomer Preis. 2022 zeichnete sie das Kollektiv InQdrt aus. Zum Sommerevent der Stiftung tritt das Kollektiv am 18. Juni einmalig in Bern auf. Es tanzt einen stündigen Parcours durch Bern vom PROGR bis zum Lischetti-Brunnen in der Postgasse mit Stationen beim Meret Oppenheim-Brunnen sowie beim Konservatoriumsbrunnen in der Rathausgasse. Das Publikum spaziert von Station zu Station und formiert sich ähnlich beim Buskers Festival um die Performer*innen.
Tanz mit der realen Umgebung
Das Kollektiv «InQdrt» hat dieses Jahr während einer Residenz in Lugano, wo es auf Plätzen vor gewerblich unbenutzten, gesperrten Räumlichkeiten arbeitete, sogenannte Scores entwickelt. Scores sind Bewegungseinheiten, eine Art Mini-Szenen. Sie beinhalten zum Beispiel den Bewegungsablauf vor einem Sprung oder bei einer Landung oder beim Balancieren auf einem Geländer. Die Scores werden an Ort und Stelle – hier in Bern – im Detail und in einer bestimmten Abfolge angepasst und zur eigentlichen Choreografie gefügt. Dabei konzentriert sich Isabelle Spescha, die selber mittanzt, auf die Qualität der Bewegung im Detail. Dramaturgin Rebecca Frey bringt den Blick von aussen ein, achtet auf den Verlauf, die Form, die Ästhetik.
Zu Beginn der 2000er Jahre arbeitete in Bern das Kollektiv öfföff von Heidi Aemisegger in ähnlicher Weise.
Es ist ein Tanz mit der realen Umgebung, teils Anpassung, Unterwerfung, teils Überwindung, Bezwingung. Zu Beginn der 2000er Jahre arbeitete in Bern das Kollektiv «öfföff» von Heidi Aemisegger in ähnlicher Weise, wenn seine Mitglieder zum Beispiel unter der eisernen Kirchenfeldbrücke waghalsige Durchgänge erschlossen, Wege kletterten, sich mit der Brücke verbanden. 2013 beendete «öfföff» sein Wirken. Leider.
Weiter geht es im Kongo
«InQdrt» kann weitermachen, zum Glück. Das Kollektiv wurde vom Bundesamt für Kultur an die Jeux de la Francophonie in Kinshasa eingeladen. Es bringt eine Kurzversion von „WANNANDERS“ mit und ist offen für Anregungen.
18. Juni, 17 Uhr Start im Hof des PROGR.
Das Kollektiv «InQdrt» tritt ausserdem am 23. Juni an der Tanzplattform von Bühnen Bern auf mit einem Parcours am Tresorplatz in den Vidmarhallen. Der Auftritt ist verbunden mit der Preisvergabe der Johnson-Stiftung.