Am Anfang stand ein Porträt von Clara Schumann. Dass sie auf der Zeichnung für den Maler Raoul Ris vielmehr wie eine nordindische Göttin als eine deutsche Pianistin und Komponistin aussah, brachte ihn auf die Idee nachzufragen, was die Betrachterinnen und Betrachter «zwischen den Strichen» seiner Bilder sehen.
«I male plus ou moins d Stadt», sagt er, aber vielleicht löse bei einem Betrachter oder einer Betrachterin ja gerade das Bild der Berner Lauben einen starken Reisedrang nach Afrika aus. Aus der Idee entstanden ist schliesslich «bernsehen», ein Buch mit durch Ris‘ Bilder inspirierten Texten von verschiedenen Autorinnen und Autoren, erschienen 2010. Das neue Projekt, vorläufig pragmatisch als «bernsehen II» bezeichnet, schliesst an das erste Buch an, spannt den Bogen aber weiter. Wo ursprünglich das Bild mit Wort und Text umwoben wurde, ist jetzt auch das Umgekehrte möglich: Ein Text kann der Ausgangspunkt der Inspiration für ein Bild sein.
Basisdemokratie im virtuellen Atelier
Die Rahmenbedingungen für die Entstehung von «bernsehen II» haben sich seit dem ersten Buch gewandelt: Bezeichnet sich Ris als «König» des ersten Buchs, als sich die Schreibenden noch ausschliesslich mit seinen Bildern beschäftigt hatten, so entspricht «bernsehen II» eher einer Basisdemokratie nach schweizerischem Vorbild. Ein siebenköpfiges Gremium von Berner Kulturschaffenden – darunter Profis und Laien – kümmert sich um die Koordination der rund sechzig Beteiligten und um die Redaktion des Buches. Dieser Wandel von alleiniger Verantwortung hin zum Kollektiv gründet nicht zuletzt in der grossen Arbeitsbelastung, die das erste Buch mit sich gebracht hatte. «Vor lauter koordinieren und Geldbeschaffen bin ich kaum mehr zum Malen gekommen», erinnert sich Ris, «und das war fatal.» Neu als Verein organisiert und mit installierter Arbeitsteilung schafft das Redaktionsteam den Raum, in dem «bernsehen II» entstehen kann.
«Das Bild funktioniert dann wie eine Folie, durch die jeder Betrachter ein anderes Bern sehen kann.»
Raoul Ris
Das eigentliche Werk findet seine Gestalt schliesslich nicht im Atelier, sondern in einem virtuellen Gedankenlabor. Auf einer eigens dafür eingerichteten Plattform warten Bilder auf Worte und Texte auf Bilder. Die Malenden und die Schreibenden können sich einloggen und sich ans «Bernsehen» machen. Für beide Seiten gibt es dabei neben dem sehr weit gefassten Bernbezug jeweils nur eine weitere Auflage: Schreibende dürfen so gut wie alles ausser einer Bildbeschreibung machen. Malende müssen mit Pinsel und nasser Farbe arbeiten. Auf diese Weise entstehen die Sorte Bilder, durch die «berngesehen» werden kann. «Das Bild funktioniert dann wie eine Folie, durch die jeder Betrachter ein anderes Bern sehen kann», schildert Ris. Während ein Foto die Wahrnehmung des Abgebildeten begrenze, weil es sage «So ist es», öffne das gemalte Bild eine Welt der Eventualitäten. «Die Leistung des Betrachtenden ist viel grösser, weil er die Ungenauigkeiten zwischen den Strichen mit eigenen Ideen auffüllen muss.»
Unaufgeregte Perspektiven suchen
Das so entstehende Werk komme «aus den beteiligten Menschen heraus», sagt Ris. Er möchte sich auch nicht zu lange beim ihm unliebsamen Begriff «Kunst» aufhalten: «Wir schauen einfach gemeinsam durch Bern hindurch.» «Bernsehen II» habe weder eine Botschaft, noch sei es einem bestimmten Ziel verpflichtet. Im Zentrum stehe der wechselseitige Austausch von Bild und Text, das Sich-Begegnen in der Auseinandersetzung mit dem Werk des anderen. «Mit dem Nebeneinander von Bild und Text möchten wir den Menschen, die hier sind, einen Raum auftun, in dem sie Bern auf ihre eigene Art erleben können», betont Ris. Diese Raumerweiterung soll der übertriebenen Hysterie des Alltags gegenüberstehen, ein Ruhigwerden und unaufgeregte Perspektiven möglich machen. «Wir schauen, was wir hier um uns herum haben, und sehen vielleicht, wer wir sind.»